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Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas

Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas

Titel: Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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Neonreklamen überflutete Heimat der Eros-Statue. Der Ort, der einst als die Radnabe des Empires bezeichnet wurde, hat viel von der einstigen Pracht eingebüßt. Zudem ist Piccadilly Circus nur unterirdisch das, was er zu sein verspricht, nämlich kreisrund. Emily war schon früher hier gewesen. Im Auftrag des Reverends hatte sie die vielen Touristen bebetteln müssen. Manchmal hatte ihr der Reverend sogar aufgetragen, das Glasauge im Waisenhaus zu lassen.
    »Die Passanten zahlen, damit sie dich nicht ansehen müssen«, hatte er ihr damals gesagt und sie hakennasig gemustert. »Wer will denn schon ein Kind mit einer leeren Augenhöhle sehen?« Unternehmungslustig in die Hände geschlagen hatte er sich bei diesen Worten und das Glasauge einbehalten. »Und nun, frisch ans Werk. Rühre die Menschen zu Tränen, und wehe dir, wenn du mir Geld unterschlägst. Sonst …« Seine Hand hatte eine Bewegung in der Luft gemacht, die den Rohrstock imitieren sollte. »Du willst diejenigen, die dir etwas zustecken, doch auch in Zukunft noch sehen können?!«
    Was hätte Emily schon tun sollen? Schließlich war sie nur ein Kind gewesen. Schweigend hatte sie ihm ihr Glasauge anvertraut und war nach draußen geeilt, um inmitten der gut gelaunten und neugierig die City bevölkernden Touristenmassen zu betteln und erbärmlich auszusehen.
    Manche Leute schenkten ihr sogar ein nettes Lächeln. Andere wiederum – und ihrer gab es nicht wenige – betrachteten sie mit einer Mischung aus Abscheu und Mitgefühl. Emily hatte keines von beidem gewollt. Das Geld, das die Leute in die Mütze zu ihren Füßen fallen ließen, hatte Emily natürlich angenommen. Hatte sie denn eine Wahl gehabt? Die anderen Kinder aber waren es, die sie ihre Andersartigkeit hatten spüren lassen. Gekicher hörte sie hinter vorgehaltenen Händen, in anderen Gesichtern fand sie nur Angst und Ekel. Die ganz Kleinen zerrten panisch an den Ärmeln ihrer Mütter, um sie zum schnellen Weitergehen zu bewegen, weil sie fürchteten, das Monstermädchen käme ihnen hinterher. Freche Straßenjungen hatten zuweilen mit leeren Coladosen nach ihr geworfen, und einmal hatte sich sogar jemand von hinten an sie herangepirscht und sie mit Graffitifarbe angesprüht. Kinder gut situierter Eltern, die teure Mäntel trugen, schnitten Fratzen und rissen die Augen ganz weit auf.
    Das war die Welt, in der Emily aufgewachsen war.
    Piccadilly war nur einer der Orte, an denen sie derartige Erfahrungen hatte sammeln dürfen.
    Wie so oft tauchte Emily in den Untergrund ab und näherte sich Piccadilly Circus mit der Tube.
    Einmal im Bahnhof angekommen, befindet man sich in einem kreisrunden Foyer, an das sich von der Oberfläche die Wasserfälle der Rolltreppen ergießen. Eine halbe Stunde hatte Emily in der engen Bahn gestanden. Emily ließ sich inmitten des Meeres an Passanten in Richtung der Rolltreppen schieben. Sie hatte sich an diesem Morgen ausschließlich im normalen Netz der Untergrundbahn fortbewegt. Kein Ausflug in die Metropole, obwohl sich gleich mehrere Portale in der Nähe der Piccadilly Station befanden. Wie immer war es eng, und die Luft roch nach menschlichen Ausdünstungen und der sterilen Trockenheit der warmen Klimaanlage. Alles in allem nichts, was einem Londoner ungewöhnlich vorgekommen wäre.
    Oben im Tageslicht stellte Emily erneut fest, dass das Auffallendste am Piccadilly Circus seine restlos abscheuliche Hässlichkeit war, verbunden mit einer seltsam faszinierenden Unwiderstehlichkeit. Früher hatte Emily oft gedacht, dass man sich den Platz niemals bei Tageslicht anschauen sollte. Des Nachts entfaltet er seine wahre Magie, wenn die grellen Leuchtreklamen glitzern und funkeln, doch tagsüber wirkt er nur schmutzig und abgasverseucht. Rock Circus, Tower Records mit dem Virgin Megastore, in dem wir den Engel zu finden beabsichtigten, und ein uninteressantes japanisches Warenhaus säumen den Platz mit seinem Kreisverkehr, von dem sternförmig Straßen in alle Richtungen verlaufen und in dessen Mitte sich die Eros-Statue in den Himmel reckt – die eigentlich der Engel der christlichen Mildtätigkeit ist. Piccadilly Circus ist der magische Pol für Tausende, die in einer stetigen Brandung aus den überfüllten Restaurants, den Kellerbars und Kneipen, den Kinos und Fast-Food-Tempeln ringsum herausströmen und über den Platz treiben.
    Emily mochte den Platz nicht besonders.
    Doch verabscheute sie ihn auch nicht.
    Es ist einfach ein Angelpunkt im Zentrum Londons.
    Londoner

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