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Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas

Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas

Titel: Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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wissen das.
    Und es war dort, wo ich meine Schutzbefohlene erwartete.
    Ich stand vertieft in die
Times
am Rande eines Seiteneingangs zu Tower Records und beäugte hin und wieder die vorbeiströmenden Massen; Letzteres in der Hoffnung, Emily Laing ausfindig machen zu können.
    »Master Wittgenstein«, begrüßte mich das Kind. Ich blickte von dem Artikel auf, den zu lesen ich im Begriff war, und verneigte mich kurz und höflich.
    »Sie sind zu spät«, stellte ich fest.
    Mürrisch sagte sie: »Ganze fünf Minuten.«
    Ja, mit der Zeit ist es so eine Sache.
    Ein feiner Nieselregen lag über der Stadt und ließ die Leute ihre Schritte beschleunigen. Zudem war vom Fluss her eine eisige Kälte in die vielen Straßen hineingekrochen, die die Menschen mürrisch fluchend die Kragen hochschlagen und die Schals enger binden ließ. Die grauen Wolken drückten mit all ihrer Last auf London, wie sie es in dieser Jahreszeit seit uralten Zeiten zu tun pflegen.
    »Wir sind wirklich hier, um Rahel zu treffen?«, fragte mich Emily.
    »Sagte ich das nicht bereits?«
    »Doch.«
    »Dann, sollte man meinen, ist diese Frage überflüssig.«
    Emily verzog das Gesicht.
    Trotzdem erklärte ich ihr den Grund unseres Kommens: »Maurice Micklewhite hat geträumt, er befände sich im Himmel. Dort erschien ihm einer der Lichtengel und sprach ihn an.«
    Emily sagte: »Rahel.«
    »Eben jener. In Maurice Micklewhites Traum manifestierten sich die Befürchtungen und Gedanken, die ihm derzeit durch den Kopf schießen. Die Engel, müssen Sie wissen, spüren so etwas. Und Engel neigen von jeher dazu, sich den Menschen in Träumen mitzuteilen. Rahel erfuhr also von den Dingen, die uns bedrücken. Er wolle sich mit einem von uns treffen, sagte der Engel im Traum, und diese Person sind Sie, kleine Miss Emily.«
    Erstaunt starrte mich das Mädchen an.
    Die Passanten schoben sich an uns vorbei, ohne uns eines Blickes zu würdigen.
    »Er will mich sprechen?«
    »Das hat Maurice Micklewhite geträumt.«
    »Und wieso hier?«
    Tower Records schob sich vor uns in den Himmel.
    »Rahel offenbarte dem Elfen, dass er hier arbeitet.«
    Mussten Engel arbeiten?
    Und wenn ja, dann …»In einem Musikladen?«
    Andererseits, warum auch wieder nicht? Als Emily den Engel das erste Mal getroffen hatte, hatte er musizierend und singend am Oxford Circus gestanden und eine zauberhafte Melodie in die Herzen der Menschen gebracht.
    »Er arbeitet als Kundenberater in der CD-Abteilung.«
    Zumindest war es das, was er Maurice Micklewhite im Traum mitgeteilt hatte.
    Etwas verunsichert fragte Emily sich, ob es auch Engel gab, die in ihren Träumen zu Gast waren. Peinlich gewesen wäre ihr das schon. Ein wenig. Doch war die Vorgehensweise der Engel so verschieden von dem, was sie unter meiner Anleitung gelernt hatte? Wie Schnappschüsse tauchten die Erfahrungen vor ihr auf, die sie während unserer Lektionen gemacht hatte. Da waren die verwirrten Gedanken eines Jungen gewesen, der das Treppenhaus im Barbican Centre mit Graffiti verunziert hatte. Enttäuscht war er gewesen, von allem. Die Welt, die Emily durch des Jungen Augen gesehen hatte, war matt schwarzweiß gewesen, und selbst die Farbsprüher brachten kein Leben in diese Tristesse. Da war eine Frau gewesen, die andere Menschen überhaupt nicht wahrnahm. Sie sah nur sich selbst, in spiegelnden Schaufensterscheiben, in Erinnerungen, in Erwartungen. Die Menschen um sie herum verblassten zu Schemen, waren kaum vorhanden. Ein alter Mann hingegen sah jedes Detail und konnte sogar einer zerdrückten Bierdose, die inmitten der träge umherwankenden Enten im Hyde Park auf der Wiese lag, Schönes abgewinnen. Wie die Welt war, das hatte Emily gelernt, liegt ganz im Auge des Betrachters.
    »Es liegt auch in Ihrer Macht«, hatte ich ihr damals gesagt, »die Zimmer aufzuräumen, die sie so flüchtig betreten.«
    Vorher hatte ich nur einmal kurz erwähnt, dass es ihr auch möglich sei, ein riesiges Durcheinander anzurichten, bewegte sie sich durch den Verstand anderer Menschen, als sei dieser ein fremdes Haus.
    »Sie meinen, dass ich die Menschen in den Irrsinn treiben kann?«
    »Ja, dazu wären Sie in der Lage.«
    Unnötig zu erwähnen, dass Emily die Tatsache erfreute, dass sie auch Gutes würde bewirken können.
    »Sie können den Menschen das nehmen, was ihren Blick trübt«, hatte ich ihr erklärt.
    Emily hatte schnell gemerkt, dass ich Recht hatte. Sie vermochte es, Ordnung in die fremden Räume zu zaubern, denn auch das war eine

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