Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas
seufzte.
Blickte verträumt auf das U2-Plakat an der Wand.
I still haven’t found what I’m looking for.
»Lord Uriel hat Lycidas und Lilith gemeinsam verdammt. Dem Licht von St. Paul’s kann nur entrinnen, wem wahre Liebe zuteil wird. Lycidas Fessel wird erst gelöst, wenn jemand seinen Platz einnimmt, der ihn selbstlos und von ganzem Herzen liebt. Lord Uriel glaubte nicht, dass ein gefallener Engel solche Gefühle auslösen könne, doch ging er kein Risiko ein: Sollte sich, was er für höchst unwahrscheinlich hielt, doch noch jemand finden, so würden die Liebenden auf ewig getrennt sein.«
»Das ist grausam«, entfuhr es Emily.
Und Rahel gurrte.
Zustimmend.
»Lord Uriel ist nicht mehr bei Sinnen«, sagte er, »doch dazu später.«
»Das klingt wahrlich kompliziert«, stellte ich fest.
Was noch untertrieben war.
»Lycidas fristet sein Dasein in der Kuppel der Kathedrale. Und Mylady Lilith ist in einen tiefen Schlaf gesunken. Man hat sie in den Mauern der alten Residenz aufgebahrt. Spiegelscherben stecken in ihren Augen, und wie Ihr wisst, sieht Lycidas alles, was sich in den Spiegeln bricht.«
»Die alte Residenz?«
»Der Tower von London!«
»In der uralten Metropole?«
»Ihr sagt es, Wittgenstein.«
Dorthin also hatten die Urieliten die Lichtlady verschleppt.
»Warum die Spiegelscherben?«, erkundigte sich Emily, die sich an die vielen Kinder in der Hölle erinnerte.
»Lilith schläft, und ihr Blick ist leer, und diese Leere sieht Lycidas immerzu. Da ist nur Leere. Kälte. Er ist unfähig, ihr zu helfen. Ihm ist nur erlaubt, an ihrem Leiden teilzuhaben.«
Emily hätte nie gedacht, dass Engel zu solch grausamen Taten fähig sein würden.
Niemals.
Dies waren nicht die gütigen Engel aus den Büchern. Es machte ihr Angst, dass nichts in der Welt so war, wie sie es sich als kleines Mädchen erträumt hatte. Es gab keine lichtumfluteten Schutzengel, die gutmütig über das Wohl der Menschen wachten. Nur diese tätowierten Engel mit dem flammenden Blick, dem vogelartigen Gebaren und dem Auftreten fahrender Spielleute. Engel, die feilschten und wucherten und darauf erpicht waren, bestmögliche Vorteile für sich selbst herauszuschlagen. Selbstsüchtige Wesen waren es, dem Willen des Träumers nicht mehr länger untertan.
»Wie kann Lilith aus ihrem Schlaf erweckt werden?«, fragte ich.
»Nur durch den Kuss eines Engels, der sie liebt.«
Nun denn!
»Durch Euren Kuss etwa?«, mutmaßte ich dreist.
»Ihr sagt es, Master Wittgenstein.«
Rahel liebte tatsächlich die Lichtlady?
Emily versuchte, nicht den Durchblick zu verlieren.
»Ich habe sie einst geliebt«, gestand er mir, und es war mir unangenehm, dass er fortwährend in unsere Gedanken hineinschielte.
»Einst?«
»Vor langer Zeit, als unsere Namen noch den edlen Klang der Schöpfung hauchten.«
Ziemlich viele Liebschaften für einen Engel, dachte sich Emily.
»Ihr würdet sterben«, gab sie zu bedenken.
Doch war das nicht die Absicht des Engels?
»Ich
will
sterben«, betonte Rahel. »Ich will nicht mehr auf Erden wandeln, und ich will auch nicht mehr in den Himmel meiner Gattung zurück. Die Zeiten, die ich im Himmel am Oxford Circus verbracht habe, sind vorüber. Lord Uriel ist dem Wahnsinn anheim gefallen. Seit Jahren schon.«
Erwähnt hatte er das schon.
Doch was war geschehen?
Rahel berichtete uns von den Urieliten, die das Licht unter die Menschen gebracht hatten. Lord Uriel, zu einem der Mächtigsten seiner Art auserkoren, hatte den Himmel am Oxford Circus seit Jahrtausenden nicht mehr verlassen. Während andere Engel des Himmels ausschwärmten, um das Leben zu spüren und den Menschen nahe zu sein und sie mit Musik und Kunststücken zu verzaubern, hockte Lord Uriel in seinem Himmel und grämte sich. Die Engel seiner Schar brachten ihm Geschenke aus der Menschenwelt mit. Bücher, CDs, Plakate, Kleidung und Lebensmittel, die Lord Uriel gierig aufsog. Das Leben aus zweiter Hand war sehr nahrhaft.
»Dann kamen Sie des Weges, kleines Mädchen«, sagte Rahel.
Emily erinnerte sich.
An den Schneefall und die Kälte und die Erschöpfung, die sie befallen hatte, als sie Rahel in die uralte Metropole am Oxford Circus gefolgt war. An den Herrn des Feuers, den schrecklich und gleichzeitig prächtig schön anzuschauenden Lord Uriel, der ihr zu schweigen geboten und für seine Hilfe das Glasauge eingefordert hatte.
»Das Glasauge«, erklärte Rahel, »war der Ursprung allen Übels.«
»Das verstehe ich nicht«, gestand Emily.
Ich
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