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Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas

Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas

Titel: Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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Stimme: »Ich bleibe!«
    Ich nahm ihren Entschluss zur Kenntnis und griff nach dem Paar fester Arbeitshandschuhe, das einer der Museumsarbeiter vorbeigebracht hatte, stülpte sie über und näherte mich dem Käfig.
    »Treten Sie zurück!«, befahl ich Emily.
    Und öffnete den Käfig.
    Flink griff ich ins Innere und bekam das Ding zu fassen. Wütend wand es sich in meinem festen Griff. Fauchte. Sabberte. Die geschlitzten, gelben Augen weiteten sich, als das Ding verstand, was ich vorhatte. Blitzlichtartige Erinnerungen bestürmten mich. Der lange, beschwerliche Weg nach London. Die Übernachtungen in verlassenen Häusern und leeren Stallungen, wo ein achtjähriger Junge zum ersten Mal seit Monaten zu schlafen vermochte, weil er den zusammengerollten, warmen Körper der Rättin neben sich spürte und wusste, dass er nun nicht mehr allein war. Die abendlichen Lehrstunden mit Mylady Hampstead im Kaminzimmer in Marylebone; die graue Rättin mit dem bissigen Humor und der Vorliebe für das Programm der BBC, die einem wissbegierigen Zehnjährigen das Wesen der Welt nahe brachte. Die Expeditionen in die trockene Dunkelheit der uralten Metropole. Die kalte Schnauze, die dem Jungen vor den Prüfungen Mut zugesprochen hatte. Rattenküsse, hatte sie der Junge damals insgeheim genannt. Das Gefühl, endlich eine Familie zu haben. Dass diese Familie eine Rättin war, hatte nie etwas zur Sache getan.
    Behände zog ich ein langes Messer aus dem Mantel.
    Emily schwieg noch immer.
    Starrte.
    Mit Tränen in den Augen.
    Biss sich zitternd auf die Lippen.
    Die Rattling wand sich quietschend unter meinem Griff. Sie war kräftig. Viel kräftiger, als es die Rättin jemals gewesen war. Schnell sollte es geschehen, dachte ich zögerlich und führte die Klinge an den Hals des Tieres.
    »Ruhe!«, sagte ich.
    Schlitzte das Tier mit einer einzigen Handbewegung.
    Dickes, dunkles Blut spritzte mir über die Handschuhe und tropfte auf den Boden. Es fühlte sich warm und lebendig an. Mit aller Kraft sträubte sie sich gegen den Tod.
    Findet Euren Frieden
, dachte ich.
    Mylady.
    Gefährtin.
    Mutter
.
    Dann schnitt ich ihr den Kopf ab.
    Emily schrie auf.
    Hielt sich die Hände vor den Mund.
    Sachte, fast zärtlich legte ich den noch zuckenden und blutenden Leichnam der Rättin in den Käfig zurück.
    Ein Schwindelgefühl befiel mich.
    Voller Ekel streifte ich die blutbesudelten Handschuhe ab und ließ sie auf den Boden fallen.
    Das Mädchen stand bleich und bewegungslos da.
    Einen Moment lang schloss ich die Augen, und als ich sie wieder öffnete, wusste ich, dass ein Teil von mir gemeinsam mit Mylady gegangen war. Dann verließ ich das Zimmer. Ob Emily mir folgte, kümmerte mich in diesem Moment nicht im Geringsten. Jetzt hatte das Mädchen den Tod in seiner nicht sehr appetitlichen Form kennen gelernt. Vorgewarnt hatte ich sie.
    Ich indes wollte nur fort von hier.
    Einfach nur weg.
    Und niemals mehr zurückschauen müssen.
    Nimmer. Nimmer.
    Nimmermehr.

Kapitel 18
Northern Line, 15:08 ab Leicester Square
    »Seit zwei Wochen haben wir keine Nachricht erhalten«, sagte Emily.
    Ihre Freundin war auch besorgt.
    Und erst die Quilps.
    Bereits am Tag nach dem Tod der Rättin waren Wittgenstein und Maurice Micklewhite in die uralte Metropole aufgebrochen. Miss Monflathers, auf deren Kenntnis des labyrinthischen Tunnelsystems man angewiesen war, wie Emily von ihrem Mentor erfahren hatte, und der Engel Rahel hatten die beiden begleitet. Und Dinsdale, das Irrlicht, war Emilys Wissen nach erneut als Pfadfinder angeheuert worden. Nach der Rückkehr vom Virgin Megastore waren sämtliche Neuigkeiten ausgetauscht worden, was letzten Endes zu jenem Vorhaben geführt hatte, das die Gefährten nun in die Tat umzusetzen bereit waren.
    Sie waren losgezogen, um die Lichtlady zu befreien.
    »Es ist zu gefährlich für Kinder«, hatte Maurice Micklewhite betont.
    Und auch die anderen hatten sich dagegen ausgesprochen, die Mädchen an der Expedition teilnehmen zu lassen.
    »Wir haben keine Ahnung, was uns dort unten erwartet«, hatte der Elf seine Meinung begründet.
    Damit war es beschlossene Sache gewesen.
    Punktum.
    »Hoffentlich ist ihnen nichts zugestoßen«, sagte Aurora.
    Und auch Emily war mittlerweile beunruhigt.
    Seit nunmehr zwei Wochen hatten sie keine Nachricht mehr von den Gefährten erhalten.
    Die beiden Freundinnen führten indes ein Leben, das sich kaum vom Alltag gewöhnlicher Mädchen unterschied. Sie gingen zur Schule. Flanierten durch die City und

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