Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas
drückten sich die Nasen an den Schaufenstern platt. Besuchten den alten Raritätenladen. Aurora wurde zum ersten Mal dem Jungen, der dort arbeitete, offiziell vorgestellt und hoffte inständig, nicht rot geworden zu sein.
»Neil«, sagte Neil und schüttelte Aurora die Hand.
»Aurora«, sagte Aurora.
Den Rest der kurzen Konversation hatten Neil und Emily bestritten.
»Magst du ihn?«, hatte Emily später, als sie wieder in ihrer Dachkammer waren, gefragt.
»Er ist nett«, war Auroras Antwort gewesen.
Sie wusste nicht genau, welche Gefühle Emily dem Jungen gegenüber hegte, und deswegen schwieg sie lieber. Immerhin … auf dem Weg zum Raritätenladen hatte Emily ihrer Freundin ausführlich von Dorian Steerforth vorgeschwärmt und ihr zum ersten Mal kurze Einblicke in seine Vergangenheit gegeben.
»Glaubst du, dass er mich mag?«, hatte Emily gefragt.
Und Aurora, die ihrer Freundin an diesem Tag nicht die Laune verderben wollte, antwortete: »Würde er dich sonst ausführen wollen?«
Emily hatte nachdenklich die Kinoplakate am Leicester Square betrachtet.
Geschwiegen.
Und nach einigen Augenblicken … gelächelt.
Ja, sie war sich sicher.
Irgendwie.
Dorian war, wenngleich sehr weltgewandt, doch recht behutsam mit ihr umgegangen. Vielleicht weil er befürchtete, sie zu sehr zu bedrängen. Immerhin war er bereits zwanzig und, gebildet wie er war, würde er sich doch denken können, dass Emily ihm zumindest abwartend begegnen und ihn hinhalten würde. Ihr Mentor, das wusste sie, hätte ihn für zu alt befunden und sie ermahnt, sich auf die Lektionen zu konzentrieren, die zu beenden er ihr aufgetragen hatte. Peggotty, Wittgensteins Haushälterin in Marylebone, ließ seit geraumer Zeit süffisante, wenn auch sicherlich gut gemeinte Bemerkungen fallen. Dessen eingedenk musste Emily zugeben, dass die rundliche, Kittelschürzen tragende und fortwährend quatschende, warmherzige Peggotty genau erkannt hatte, wie es um das Herz des Mädchens bestellt war. Die Haushälterin bombardierte Emilys Mentor mit ihren Weisheiten und fügte stets ein »Verstehen Sie?« hinzu.
Worauf Wittgenstein meist eine Grimasse zog und kurz angebunden bat: »Fragen Sie nicht!«
Dorian Steerforth.
Aus Twickenham.
In den letzten Nächten hatte Emily versucht zu ergründen, was sie an diesem Jungen so faszinierte. Er war frech, doch das war Neil aus dem Raritätenladen auch. Nein, der Ältere war auf eine andere Art frech. Nicht frech, sondern dreist. Das, was er sagte, klang höflich, und erst der Gesichtsausdruck zu den Worten veränderte deren Bedeutung. Nicht dass Emily jede seiner Bemerkungen verstanden hätte.
Ach, sie mochte ihn einfach.
Wollte ihn wiedersehen.
Und genau das hatte sie auch Aurora gestanden. »Wenn er sich erneut meldet, dann werde ich seiner Einladung folgen.«
Aurora hatte sie mit einem Blick bedacht, den Emily nicht zu deuten vermocht hatte. Für einen Augenblick lang war ihr, als wisse Aurora etwas, von dem sie noch nichts ahnte. Doch dann verflog dieser Eindruck, als ihre Freundin lächelnd antwortete: »Warum nicht?«
Ja, warum nicht?
Warum eigentlich nicht?
Dummerweise meldeten sich in den zwei Wochen, die dem höchst aufschlussreichen Treffen im Museum folgten, nicht nur weder Wittgenstein noch Micklewhite, sondern auch der geheimnisvolle Retter aus der Region ließ auf sich warten. Dorian Steerforth war sozusagen verschollen. Weder rief er an, noch schickte er einen Brief. Es war, als habe es ihn niemals gegeben.
Wann immer Emily den Kartographen zur Sprache brachte, schwieg Aurora.
Natürlich wusste sie nichts.
Konnte nichts wissen.
Woher denn auch?
Sie sah, dass es Emily nicht gut ging und sie sich nach einer Nachricht sehnte, die nicht kam. Vermutlich sorgte sich Aurora um sie und versuchte deswegen, das Gespräch nicht auf Dorian zu lenken. Emily war ihrer Freundin wirklich dankbar, wenngleich ihr Auroras Schweigsamkeit nicht sonderlich weiterhalf. In den Nächten fragte sie sich, ob Dorian in der Schule – sie konnte sich kaum vorstellen, dass jemand wie er noch die Schulbank drücken musste! – unter seiner Narbe zu leiden hatte. Mitfühlend stellte sich Emily vor, dass auch Steerforth an manchen Tagen sein Spiegelbild abgrundtief hasste und sich wünschte, sein Gesicht wäre ein anderes.
»Wie gefällt er dir?«, hatte Emily ihre Freundin einmal gefragt.
»Steerforth?«
»Ja, Dorian.«
»Er ist hübsch.«
»Und?«
»Kein Und.«
»Könntest du dir vorstellen, dass …«
»…
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