Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas
alte, rostige Gleise, von Staub und Schmutz farblos geworden, zwei halb zerfallene Holzbänke mit gusseisernen Lehnen und Beinen, ein viel zu schräg von der niedrigen Decke baumelndes Schild mit der Aufschrift »Endsville«, ein vergilbter, fast unleserlicher Fahrplan.
Mit einem lauten Grollen fuhr der Zug ein: vier Waggons, gezogen von zwei Motorwagen, rüstigen 1898er Jackson & Sharps, die im regulären Verkehr bereits im Jahre 1940 aus dem Dienst gestellt worden waren. Doch hier in der uralten Metropole erfüllten sie wie viele andere Dinge, die ansonsten längst ausgemustert worden waren, noch ihren Zweck.
Maurice Micklewhite folgend betraten wir den Zug, der angenehm nach warmem Holz und glühenden Kohlen roch. Ich schloss die Türen hinter uns, und dann setzte sich das Gefährt ruckartig in Bewegung, ratterte durch einen scharfkurvigen Tunnel und kam zum Stehen, noch bevor es richtig in Fahrt gekommen war.
»Wir sind da«, sagte ich und öffnete die Türen.
Aurora und Emily rissen erstaunt die Münder auf.
»Willkommen im Ravenscourt, meine Damen.«
Raues Krächzen empfing uns.
Die beiden Mädchen traten in die große Halle, an deren Decke dicke Abwasserrohre entlangliefen. Lange Teppiche mit orientalischen Mustern hingen an den gemauerten Wänden herab. Ein Gewirr aus Ständen, an denen Händler ihre Ware feilboten, breitete sich vor uns aus. Tätowierte Künstler aus Roxburyville, Adelige aus Mayfair und Tunnelstreicher aus Hidden Holborn bevölkerten die große Halle, grimmige Jäger in Schwarz und Reisende in den Farben ihrer Gilde.
»Dies ist Ravenscourt«, wiederholte Maurice Micklewhite.
Emily staunte. »Es ist ein Marktplatz.«
»Es ist Ravenscourt.«
Die meisten der sich hier unten tummelnden Menschen sahen aus wie Raben. Große dürre Gestalten, die leicht gebückt gingen und den schmalen Kopf auf einem hageren langen Hals bei jedem Schritt unruhig nach vorne schnellen ließen. Die dunklen Haare standen ihnen federngleich in wilden Büscheln zu Berge.
Emily brachte es auf den Punkt: »Sie sehen gerupft aus.«
Die Sprache dieser Menschen, denn das waren sie letzten Endes, ähnelte dem Krächzen des schwarzen Federviehs.
»Was sind das nur für schräge Gestalten«, flüsterte Aurora ihrer Freundin zu.
»Was weiß denn ich?«
Als wäre es eine ausreichende Antwort, trat Maurice Micklewhite von hinten an die beiden heran und stellte erneut fest: »Dies ist Ravenscourt.«
»Und hier sollen wir einen Führer finden?«, fragte mich Emily.
»Einen Pfadfinder«, korrigierte ich sie.
»Dann eben einen Pfadfinder«, nörgelte sie.
»Sie müssen lernen zu sagen, was Sie meinen«, belehrte ich sie. »Denn wenn Sie nicht lernen zu sagen, was Sie meinen, dann werden Sie niemals das meinen, was Sie sagen.«
»Ist ja schon gut.«
Mürrisch stellte ich klar: »Ein Pfadfinder ist jemand, der, wie es der Name bereits erkennen lässt, Pfade kennt und findet und Wanderer geleitet. Ein Führer dient den Wyrmern. Er leiht ihnen seine Sinne und bändigt sie gleichsam.«
Aurora runzelte die Stirn. »Und was für Würmer sind das?«
»Wyrmer.«
Maurice warf mir einen beiläufigen Blick zu. »Die Kinder müssen nicht alles wissen.«
Damit hatte er Recht.
Maurice Micklewhite bot sich an, den Pfadfinder anzuheuern.
Er verließ uns, und die beiden Mädchen ließen sich auf einer Bank neben einem der Stände nieder.
Ein alter Mann, dessen halbrunde Tätowierung auf der runzligen Stirn ihn als Müllsammler kennzeichnete, verkaufte aufgeweichte, doch noch ausreichend lesbare Landkarten und andere Utensilien für die Passage in die tieferen Schächte der Grenzgebiete. Ich studierte interessiert einige der brüchigen Karten, während die beiden Mädchen tuschelten und argwöhnisch ihre Blicke schweifen ließen.
»Ich sagte dir bereits, dass das ganz schräge Typen sind. Sieh dir diesen Wittgenstein an.«
»Er ist nett.«
Aurora zog eine Grimasse. »Er ist schräg.«
»Ist er eben schräg«, konterte Emily und strich sich trotzig eine Strähne des roten Haars aus dem Gesicht.
Zwei Gildehändler in mittelalterlich anmutenden Roben verhandelten Einstandspreise.
»Hättest du je gedacht, dass es so etwas geben könnte?«, fragte Aurora.
»Eine Stadt unterhalb Londons?«
Sie nickte.
Emily schüttelte den Kopf. »Vielleicht träumen wir das alles nur.«
Auf einmal wirkte Aurora traurig. »Ich habe heute Nacht von meinen Eltern geträumt.«
»Wie sahen sie aus?«
»Sie hatten keine Gesichter«,
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