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Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas

Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas

Titel: Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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gestand das Mädchen. »Aber sie hatten dunkle Haut, genauso wie ich, und irgendwie schienen es meine Eltern zu sein. Sie wohnten in einem großen, feinen Haus und ich trug saubere, weiße Kleider.« Aurora schluckte. »Aber jemand war bei ihnen. Eine Frau, deren Stimme ich kannte. Mein Vater, der keine Augen und kein Gesicht hatte, sprach mit dieser Frau. Er nannte sie Snowhitepink, und dann verstand ich, dass sie mich gefunden hatte. Ich wollte abhauen, doch meine Beine bewegten sich nicht. Wie gelähmt saß ich auf dem Boden, und dann kamen sie und Snowhitepink nahm mich mit. Auch sie hatte kein Gesicht. Sie brachte mich in ein Haus, wo ein Mann auf mich wartete. In einem Zimmer mit roten Vorhängen und einem Stuhl, der nach Mottenpulver roch. Dann brachte mich Madame Snowhitepink zurück nach Rotherhithe.« Tränen traten in ihre Augen. »Ich habe solche Angst, wieder dorthin zurückzumüssen, Emmy. Lieber steige ich mit diesen schrägen Gestalten ganz tief hinab in die Tunnel oder wohin auch immer. Aber ich will nicht wieder dorthin zurück. Nicht ins Waisenhaus.«
    Emily ergriff die Hand ihrer Freundin. »Sei zuversichtlich«, flüsterte sie.
    »Das alles hier ist so unwirklich, Emmy.«
    »Es ist die Wirklichkeit«, sagte ich.
    Die beiden Mädchen schauten ertappt auf.
    »Denken Sie jetzt nicht, ich hätte Sie belauscht.«
    Emily legte den Kopf schief. Dachte nach.
    »Darf ich Ihnen eine Frage stellen?«
    Ich zog ein Gesicht. »Hm.«
    »Was ist die uralte Metropole?«
    Eine gute Frage!
    »Die Stadt unter der Stadt«, gab ich zur Antwort.
    Denn so nennen wir sie seit alters.
    Es gibt Schächte hier unten, die bis tief in die Erde reichen. Straßentunnel, erbaut von den Stadtwerken, und solche, deren Ursprung man kaum mehr zurückverfolgen kann. Katakomben, in denen man Höhlenmalereien findet, die Wesen zeigen, von denen niemand je gehört hat. Es gibt große Gewölbe und Röhren und Korridore, die ineinander übergehen, wo Handel getrieben wird und Prostituierte ihrem Gewerbe nachgehen, wo die Luft selbst ganz schwer ist vom Gewicht Londons. Telefonkabel verlaufen durch Tonröhren, die man durchschreiten kann, wenn man die Pfade kennt.
    »Es ist die Stadt unter der Stadt.«
    Ein weit verzweigtes Katakombensystem von Wegen und Straßen, das das Verkehrsnetz Londons imitiert. Es gibt Flüsse hier unten und Grafschaften. Märkte und Abteien. Sogar Wassermühlen finden sich in der Nähe der Themse. Römische Tempel werden zu Abwasserkloaken, und alles ist am Ende verbunden durch das Schienennetz der Underground. Es gibt U-Bahn-Linien, die kein Mensch je erblickt hat und an die sich nicht einmal die Alten mehr erinnern.
    »Es ist die Stadt unter der Stadt.«
    Die Worte sagen alles, was man über die uralte Metropole erfahren kann.
    Man kann sie durchwandern, und man kann sich in ihrem Labyrinth verlaufen. Es gibt die Catherine Street, in der schlüpfrige Schriften verkauft werden. King’s Moan, wo die Fallwinde heulen und Gasthäuser, Zeitungsbuden und Tavernen den Tagesablauf diktieren. Es gibt Vogelhändler in Seven Dials und Wagenbauer in Long Acre. Bildschnitzer in der Euston Road und Tuchhändler in der Tottenham Court Road. Quacksalber und Knochenbrecher haben sich drüben am Finsbury Square eingenistet. Hutmacher in der Borough Low und der Tooley Street. Die Tunnelstreicher leben unten in Hidden Holborn.
    »Die uralte Metropole«, sagte ich, »ist schon immer da gewesen. Sie werden sie kennen lernen.«
    Emily wusste nicht, ob sie das freuen sollte oder nicht.
    »Mir hat sie Angst gemacht. Als ich klein war.«
    Allein die Vorstellung, dass unter der Erde eine andere Welt existiert, war schwer zu verdauen gewesen für einen zwölfjährigen Jungen, den eine Rättin aus seiner schottischen Heimat fortgeführt hatte. Hierher. In die Stadt der Schornsteine. In die uralte Metropole.
    Damals.
    Aurora musterte mich ernst. »Warum tun Sie das?«
    »Tu ich was?«
    »Warum helfen Sie Emmy und mir?«
    »Die Ratte bat mich darum.«
    »Ist das der einzige Grund?« Emily sah mich erwartungsvoll an.
    »Ja, ist es.«
    Kurz flackerte trauriges Bedauern in ihrem Blick auf.
    »Ich kenne das Waisenhaus in Rotherhithe«, gestand ich. »Es ist alt. Sehr alt. Älter, als sie beide es sich vorstellen können.«
    Jetzt hatte ich sogar Auroras Aufmerksamkeit. »Wie meinen Sie das?«
    »Es gibt Orte, die schlecht sind, Miss Fitzrovia.«
    »Und Dombey & Son ist ein solcher Ort?«
    »Selbst die Erde, auf dem das Haus steht, ist verdorben.

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