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Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas

Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas

Titel: Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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Getränkt von den Tränen unzähliger Kinder. Das Haus ist schon sehr lange da. Zweihundert Jahre, schätze ich. Die Besitzer jedoch wechselten, während die Jahre vergingen.«
    Emily sah mich fragend an. »Sie waren selbst einmal dort?«
    »Nein.«
    Ein krächzender Rabenmann stolzierte an uns vorbei. Hielt eine Blechdose, in der sich Regenwürmer kringelten. Gierig schlang er die Leckerbissen hinunter und gurrte nach jedem Bissen wie eine Taube.
    »Aber Sie sind doch auch ein Waisenkind gewesen?«
    »Ich hatte Glück und fand jemanden, der mich bei sich aufnahm. Eine Rättin namens Mylady Hampstead. Sie fand mich, als mein Leben nicht schlechter hätte verlaufen können. Und brachte mich nach London. Nein, Miss Emily, ich hatte das Glück, in Marylebone aufzuwachsen. In dem Anwesen, in dem ich auch heute noch lebe. Hampstead Manor. Das Waisenhaus von Rotherhithe kenne ich nur aus den Geschichten, die sich die Kinder erzählten. Es gab viele Waisenhäuser in der Stadt der Schornsteine, und Rotherhithe war eines der berüchtigtsten. Der Vorgänger des Reverends, ein gewisser Mr. Murdstone, verkaufte Kinder an die Kohlengruben im Norden, und nicht wenige Kinder verendeten in den Schornsteinen, die man ihnen zu reinigen auftrug und in die sie hineinklettern mussten. Es waren schlimme Zeiten, in denen selbstsüchtige, bösartige Menschen herrschten.«
    »Haben Sie von Ihren Eltern geträumt, als Sie klein gewesen sind?«
    »Das habe ich, Miss Fitzrovia.«
    »Und?«
    »Fragen Sie lieber nicht.«
    Unverhofft tauchte ein jäher Lichtblitz vor Emily auf.
    Ließ das Mädchen zusammenzucken.
    Im ersten Moment dachte sie, jemand habe ein Feuer dicht vor ihrem Gesicht entzündet, und hielt sich schützend die Hand vor die Augen. Dann stellte sie fest, dass sich das Feuer wieselflink bewegte und nervös in der Luft umherzappelte. Es machte ein summendes Geräusch, ähnlich dem einer dicken, fetten Hummel, und flirrte erst um Emilys und anschließend um Auroras Kopf.
    Schon erschien auch Maurice Micklewhite wieder auf der Bildfläche. »Darf ich Ihnen unseren Pfadfinder vorstellen?«
    Das unruhige Ding sauste jetzt in engen, kreiselnden Bewegungen zwischen uns umher.
    »Was ist das?«, wollte Emily wissen.
    Ich sagte es ihr. »Das ist der Pfadfinder.«
    »Winston Dinsdale«, stellte ihn uns Maurice Micklewhite vor.
    »Ein Irrlicht«, fügte ich hinzu.
    Es brummte eine Begrüßung.
    Die beiden Mädchen starrten wie gebannt auf das ohne Unterlass surrende, tanzende und umherwuselnde Licht. Es hatte die Größe einer Kinderhand und keinen erkennbaren Körper. Das seltsame kleine Wesen schien aus reinem Licht und etwas konfuser Willenskraft zu bestehen. Es strahlte in wechselnder Intensität, und das Summen veränderte sich fortwährend.
    »Das ist unser Pfadfinder?« Emilys Blick drückte Skepsis aus.
    »
Er
ist ein Irrlicht«, wiederholte Maurice Micklewhite. »Dort, wo wir hingehen, wird es zuweilen dunkel sein. Er kennt den Weg,
und
er leuchtet.«
    Als wolle Winston die Aussage bestätigen, wechselte er augenblicklich die Farbe von einem grellen Weiß in ein sanftes Orange und summte eine neue Melodie in einer höheren Tonlage.
    Aurora fragte vorsichtig: »Verstehen Sie, was es sagt?«
    Maurice grinste. »
Er!
«
    »Bitte?«
    »
Es
ist ein
Er
. Winston.«
    »Irrlichter legen Wert darauf, als Persönlichkeit anerkannt zu werden«, gab ich zu bedenken.
    Maurice stimmte mir zu.
    »Sein Name ist Winston Dinsdale. Nennen Sie ihn Winston oder Dinsdale.« Er vergewisserte sich, dass die beiden Mädchen ihn verstanden hatten. »Aber um auf Ihre Frage von vorhin zurückzukommen. Ja, ich verstehe ihn. Wenngleich er ein Irrlicht aus Manchester ist.«
    Emily nickte. »Hallo, Dinsdale.«
    »Schön, dich kennen zu lernen«, sagte Aurora.
    Langsam gewöhnte sich Emily an diese ihr noch vor zwei Tagen gänzlich unbekannte Welt. Das Waisenhaus hatte sie gelehrt, schnell neue Regeln zu befolgen. Vielleicht lag es auch daran, dass sie noch ein Kind war und die Dinge in ihrer wesentlichen Art annehmen konnte.
    Wir standen da, das Irrlicht flitzte zwischen uns herum, und die zerzottelten und gerupften Rabenmenschen staksten zwischen den Ständen umher.
    »Und was jetzt?«, flüsterte Aurora ihrer Freundin ins Ohr.
    Maurice Micklewhite rückte mit einer Neuigkeit heraus: »Der Earl möchte uns sprechen.«
    »Weswegen?«
    »Er möchte uns Informationen verkaufen«, erklärte er.
    Emilys waches Auge huschte aufmerksam zwischen uns beiden hin und

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