Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas
Der alte Mann, den Miss Aurora auf der Photographie gesehen hat, ist zu dem hübschen Steerforth geworden, der Sie beide gegeneinander ausspielte.«
Erstaunt spürte Emily ihren Herzschlag schneller werden.
Wie konnte es sein, dass Lycidas davon wusste?
Wo er doch die ganze Zeit über in der Laterne von St. Paul’s gefangen gewesen war?
Als errate der Lichtlord des Mädchens Gedanken, erklärte er: »Mylady Lilith teilte ihr Wissen mit mir.«
Emily lauschte der Stimme.
Die immer mehr zu jener Lucia del Fuegos wurde.
Wie eine Farbe, so warm und dunkelrot.
Doch trunken vor beherrschter Verzweiflung.
Weil sie nicht mehr da war. Weil sie es nie wieder sein würde. Weil, und niemand verstand dies besser als ein Waisenkind – weil Lycidas nun allein war.
»Zweifeln Sie nicht länger daran.« Jetzt war es die Stimme der grauen Jägerin, die ihre Mutter gekannt hatte. »Steerforth ist der Name, den sich der Nocnitsa nach seiner Ankunft in England gegeben hat. Dorian Steerforth.«
Emily musste voller Verzweiflung an die Bilder denken, die sie mit den Augen ihrer Schwester gesehen hatte. An das Gesicht des Aphroditen. Des Nocnitsa. Wie er die kleine Mara entführte.
»Er hat meine Schwester geraubt.«
Master Lycidas hatte auch davon erfahren.
»Er wird sie nach Blackheath bringen«, sagte ich.
»Es gibt einen Abgrund dort.« Lycidas’ Augen verloren jeglichen Glanz.
»Wie denjenigen in der Region?«
Der Lichtlord warf seinen beiden Jägern einen Blick zu, der schwer zu deuten war.
»Die Abgründe führen hinunter zum Nyx. Sie kreuzen nicht die Pfade der Hölle.«
Miss Monflathers wirkte überrascht. »Nicht einmal die Black Friars wissen von einem zweiten Abgrund.«
»Dennoch gibt es zwei Abgründe in London. Beide sind nahezu bodenlose Abstiege in die Tiefen des Ophar Nyx.«
Kopfschmerzen bestürmten Emily mit einem Mal.
Jenes uralte Wesen, der Nocnitsa, hatte ihre kleine Schwester geraubt und nach Blackheath gebracht. Doch zu welchem Zweck nur? Was gedachte Martin Mushroom mit der kleinen Mara zu tun?
Lycidas, der Gedanken lesen oder einfach nur gut Gesichter deuten konnte, sagte: »Er wird sie zum Nyx bringen.«
»Aber wieso?«
»Mara, Ihre Schwester, ist die Erbin des Hauses Mushroom. Zumindest scheint Lord Mushroom davon überzeugt zu sein, dass er der leibliche Vater des Kindes ist. Ansonsten hätte er sie wohl nicht entführen lassen.«
Während ihres letzten Treffens im Tower von London war Lycidas noch nicht darüber im Bilde gewesen, dass es sich bei den beiden um Schwestern, um Kinder desselben Vaters und derselben Mutter handelte. Lilith, dachte Emily sich, hat es gewusst. Und es dem Lichtlord irgendwie mitgeteilt. Im Augenblick ihres Todes.
Wie bereits in den Stunden zuvor, konnte Emily die Angst, die sie um ihre kleine Schwester hatte, nicht im Zaum halten. »Nun sagen Sie mir schon, was er mit ihr vorhat«, drängte sie den Lichtlord zu einer Antwort.
»Er wird sie zum Nyx führen. Mitten in den Abgrund hinein, der sich schon seit Jahrhunderten unter Blackheath auftut.«
»Wie ist das nur möglich?« Jetzt war es an Miss Monflathers, erstaunt zu sein. »Die Black Friars haben seit Jahrhunderten die Welt unterhalb der Stadt erforscht und niemals einen zweiten Abgrund entdeckt.«
»Und dennoch existiert er.«
»Wir haben es also mit zwei Abgründen zu tun«, brachte ich die Angelegenheit auf den Punkt. »Einen gleich nebenan in der Region.« Keine Stunde Fußmarsch von unserem Platz in der Krypta aus. »Und einen drüben in Blackheath.«
»Mushroom Manor«, erklärte Lycidas, »ist auf eben jenem Abgrund erbaut worden.«
»Toll«, murmelte Emily.
Welche Neuigkeiten würde diese Nacht noch bringen?
»Lord Mushroom wird seine Tochter dem Nyx übergeben.« Nur diese Feststellung, so beiläufig und selbstverständlich in den Raum geworfen, als hätte sie keinerlei Bedeutung.
»Zu welchem Zweck?«, wollte Miss Monflathers wissen.
»Er könnte seiner eigenen Tochter einen Körper geben.«
»Er hat eine Tochter?«, fragte Emily.
Und Aurora fügte hinzu: »Der Nyx?«
Lycidas nickte. »Ja, Eris.«
Ein Name, den Emily schon einmal vernommen hatte. In alten Geschichten. Von Seefahrern in der Ägäis. Er war ihr aus den Göttersagen des Altertums geläufig.
»Sie ist kein Mensch«, erklärte Maurice Micklewhite den Kindern. »Sie ist wie der Nyx. Nicht mal ein Gott und doch kein Mensch. Sie ist ein Bewusstsein. Ein Gefühl. Sie ist Zwietracht und Verschlagenheit. Der griechische
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