Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas
warteten, dass ihnen jemand Leben einhauchte und sie hinaufführte. In die uralte Metropole. Nach London. Vielleicht sogar in die Hölle.
»Was sollen wir denn jetzt tun?«, wollte Emily wissen.
Mit einem Mal wuchsen ihr die Dinge über den Kopf. Während der vergangenen Stunden hatte sie mehrmals versucht, Kontakt zu ihrer Schwester herzustellen. Ohne Erfolg. Sie sah die kleine Mara vor sich, wie sie im Salon des Anwesens am Regent’s Park auf sie zugestürmt gekommen war. Mit ihrem zerzausten Haar und der Stupsnase und den hellen Augen, die eindeutig belegten, dass sie beide Geschwister waren. Richtige Geschwister. Töchter von Mia Manderley. Töchter von Richard Swiveller.
»Deswegen«, fiel Aurora unvermittelt ein, »wollte Lord Mushroom immer einen Jungen haben.«
Aller Blicke wandten sich ihr zu.
»Sprechen Sie weiter«, bat Maurice Micklewhite seine Schutzbefohlene, der so viel Aufmerksamkeit unangenehm war.
»Ich meine, ein Mann zählt mehr in dieser Welt.«
Emily verdrehte die Augen.
Zog ein Gesicht.
»Was denken Sie darüber?« Die Frage war an mich gerichtet.
»Oh«, gab ich zur Antwort, »fragen Sie nicht.«
»Nein, so habe ich das nicht gemeint.« Aurora war peinlich berührt.
Beruhigend sagte Maurice Micklewhite: »Wir wissen, wie Sie es gemeint haben.« Und zur Sicherheit erklärte er es noch einmal. »Der Mann ist der Patriarch. Ihm stehen die Entscheidungen zu. Eine Frau wird irgendwann einmal verheiratet und untersteht somit dem Gutdünken und den Weisungen ihres Ehemannes. Das ist von alters her elfisches Brauchtum.«
Emily ordnete ihre Gedanken. »Deshalb auch die Hochzeit«, murmelte sie.
Ein männlicher Erbe hätte die Position Mushroom Manors in der Metropole in weitaus stärkerem Maße verbessern können als eine Tochter. Ein Sitz im Senat wäre ihm sicher gewesen, was einer Frau auf ewig verwehrt geblieben wäre. Deswegen also hatte Martin Mushroom so getobt, nachdem Mia sich als unfähig erwiesen hatte, ihm einen Jungen zu gebären. Letzten Endes hatte er sich mit einem Mädchen zufrieden geben müssen. Nur die zweitbeste Lösung. Doch immerhin.
Bis dieses Kind dann gestohlen worden war. Von wem auch immer.
»Alles okay bei dir?«, hörte Emily die besorgte Stimme ihrer Freundin.
Sie nickte nur.
Suchte in der Dunkelheit nach Auroras Hand.
»Wir werden Mara schon finden.«
Emily wusste, dass Aurora ihr nur Mut machen wollte. Doch waren Freundinnen nicht dazu da? Genau dies zu tun?
»Ja«, flüsterte Emily.
Drückte ihrer Freundin Hand.
Ganz fest.
»Danke.«
Ihre Gedanken kehrten zu Mara zurück.
Was wollte Martin Mushroom ihrer Schwester nur antun? Wie konnte er ihr das, was er ihr da anzutun gedachte, vor sich selbst rechtfertigen, wenn er doch fest daran glaubte, dass er der leibliche Vater war? Väter, dachte Emily, tun so etwas nicht. Eltern, hatte sie immer geglaubt, sorgten sich um ihre Kinder. Aber dann hatte sie wieder an die Schule denken müssen. Daran, dass viele Eltern ihre Kinder eher wie Sklaven behandelten. Dass es manchen Kindern sogar im Waisenhaus von Rotherhithe besser ergangen war.
Lycidas lehnte sich in seinem Stuhl zurück und schloss einen Moment lang die Augen.
»Wir werden den Nyx in seine Schranken weisen«, sagte er. »So, wie wir es immer getan haben.« Düster klang diese Ankündigung. Unheilschwanger.
»Haben Sie einen Plan?«, fragte Maurice Micklewhite.
Der Lichtlord lächelte still und antwortete: »Ja, den habe ich. Die Kinder werden mir folgen, und es werden die Kinder sein, durch deren Augen wir den Nyx besiegen.«
Emily fand, dass er in Rätseln sprach. Welche Kinder meinte er? Aurora und sie selbst? Die Kinder mit den Spiegelscherbenaugen, die in der Hölle ihr trostloses Dasein fristeten? Losgelöst von der Zeit, in der sie hätten glücklich leben sollen?
So viele Dinge noch musste sie in Erfahrung bringen, und sie ahnte, dass die Zeit dafür nicht ausreichen würde. Wann hatte Lucia del Fuego ihre Mutter kennen gelernt, und was war mit Mia Manderley hinter den Mauern des großen Anwesens in Blackheath geschehen? Was nur hatte sie dort erblickt, das sie in den Wahnsinn getrieben hatte?
Wie schlimm ist Wissen, entsann sich Emily der Worte Mylady Hampsteads, wenn es dem Wissenden keinen Gewinn bringt!
Das Mädchen lauschte den Worten des Lichtlords.
Das also war sein Plan.
Verwegen klang er. Doch Erfolg versprechend?
Ach, was wusste ein Kind denn schon? Die Stimme des Lichtlords erinnerte sie jedenfalls an die Frau,
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