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Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas

Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas

Titel: Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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dieser Erinnerungen bedienen zu müssen, um zu erraten, wo sie sich gerade befand. Wie oft schon war sie durch die Korridore dieses Bahnhofs gelaufen. Doch niemals hatte sie auch nur einen einzigen Gedanken daran verschwendet, welch ein Geschenk es war, all die Dinge, die einen umgaben, auch sehen zu können.
    Manchmal, dachte Emily, ändert das Leben eben alles.
    Noch immer klang der Bob-Dylan-Song in ihrem Kopf nach.
    »Tun wir das Richtige?«, fragte Aurora sie, als die Rolltreppe sie hinab in den Schlund in der Erde führte.
    Nur zögernd antwortete Emily: »Wir werden sehen.«
    Wurde sich bewusst, dass manche Redewendungen nicht unbedingt für Blinde gemacht waren.
    Seufzte.
    Wir werden sehen, dachte sie.
    Denn das war das Einzige, dessen sie sich gewiss war. Die Dinge würden innerhalb der kommenden Stunden die eine oder andere Wendung erfahren. Es würde etwas geschehen, das die Welt nachhaltig verändern würde.
    Irgendwie.
    Wir werden also sehen.
    Für Emily Laing war dies eher ein Wunsch, der von Herzen kam. Eine banale Redewendung, die mit einem Mal die ganze Hoffnung des Mädchens in sich trug. Die Hoffnung, dass die Dinge wieder so werden würden, wie sie einst gewesen waren. Dass sie wieder würde sehen können. Dass es die Menschen, mit denen sie zu tun hatte, ehrlich mit ihr meinten.
    Gegrübelt hatte sie über das, was sie in der Nationalbibliothek gehört hatte.
    Und was sie daraus zu schlussfolgern vermochte, hatte ihr nicht gefallen.
    »Miss Monflathers«, gestand sie Aurora, »war so anders.«
    Aurora pflichtete ihr bei. »Berechnend.«
    Als habe die Lehrerin, die sie zu kennen geglaubt hatten, kurz ihr wahres Gesicht durchscheinen lassen.
    Zum ersten Mal, seitdem sie Maurice Micklewhite und Miss Monflathers kannte, zweifelte Emily an deren Loyalität. Der Loyalität ihr und Aurora gegenüber, nicht jedoch der Loyalität London oder der uralten Metropole gegenüber. Erneut beschlich Emily das ungute Gefühl, dass sie nur einen winzigen Teil dieses Spiels überblickte und nicht einmal die Beweggründe der wichtigen Spieler vollständig nachvollziehen konnte.
    »Die machen doch mit uns, was sie wollen«, war Auroras Meinung dazu.
    Emily zog es vor, nicht darauf zu antworten.
    Dann wurde sie des Geräusches gewahr.
    In einem der Tunnel unterhalb der Beaufort Street war ihr mit einem Mal, als hörte sie Schritte.
    »Was ist das?«, flüsterte sie leise.
    Die Mädchen lauschten.
    Gespannt.
    Nur das ferne Wummern einer Pumpe, die unten in den Luftschächten arbeitete, pulsierte in der Stille.
    »Ich höre nichts«, sagte Aurora schließlich.
    Sie gingen weiter.
    Langsam.
    Vorsichtig.
    Abwartend.
    Dunkles Wasser rann von den Wänden herab und tropfte lautstark in die Lachen und Pfützen am Boden. Chelsea Embankment war ganz nahe, und die Themse drückte sich überall durch das Gestein. Emily konnte den Fluss geradezu riechen. Die Fäulnis und die Tiefe des Wassers. Mäuse huschten hier durch die Gänge. Emily hoffte jedenfalls, dass es Mäuse waren. Weder an die intriganten Ratten noch an die mysteriösen Rattlinge denken wollte sie.
    Tat es dann natürlich doch.
    Dachte an das Ding, in das Mylady Hampstead sich verwandelt hatte.
    Da!
    Es war wieder zu hören gewesen.
    Deutlich.
    Ein Kratzen von Krallen auf den Steinen.
    »Jetzt habe ich es auch gehört«, flüsterte Aurora.
    Die Furcht in ihrer Stimme war nicht zu überhören.
    »Was ist das?«, murmelte Emily. Drehte den Kopf und versuchte, sich zu orientieren.
    Die Mädchen befanden sich fast am Ziel. King’s Moan lag keine zehn Fußminuten mehr vor ihnen. Doch zwischen ihnen und dem Ort, den sie aufzusuchen gedachten, befanden sich noch einige dunkle Tunnelwindungen und unüberblickbare Ecken.
    Und die Geräusche.
    Die definitiv da waren.
    Hier bei ihnen. Ganz nah.
    Da, wo sonst niemand war.
    Und es waren die Geräusche vieler kleiner Füße. Krallenbewehrter Füße.
    »Es gibt hier nur wenige Fackeln«, erklärte Aurora die Situation und Emily konnte sich lebhaft vorstellen, wie Aurora versuchte, etwas in dieser schattenhaften Dunkelheit zu erkennen. »Es ist jetzt direkt vor uns«, raunte Aurora furchtsam, und Emily konzentrierte sich allein auf die Geräusche. »Sie«, verbesserte Aurora sich mit zitternder Stimme, »sind direkt vor uns.« Krallenfüße, die durch die Dunkelheit auf sie zukamen. »Was sollen wir jetzt tun?«
    Plötzlich waren weitere Schritte zu vernehmen.
    Hinter den Mädchen.
    »Da ist noch jemand«, sagte Emily.
    Viel zu

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