Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas
Jackenärmel. »Wir müssen dort hinunter.«
Hätten die beiden Mädchen tatsächlich mein Anwesen in Marylebone aufgesucht, wäre ich bitterlichst enttäuscht gewesen. Doch die beiden hegten nicht im Geringsten die Absicht, unseren Anweisungen zu folgen. Emily, die den eisigen Wind und die Schneeflocken auf ihrem Gesicht spürte, als Aurora sie aus dem Museum geleitete, musste gar nicht lange überlegen.
»Es war ein Zeichen!«
Aurora war sich dessen nicht ganz so sicher.
»Die führen doch etwas im Schilde«, war ihre Meinung, »bei dem sie uns nicht dabeihaben wollen.«
»Nicht Wittgenstein.«
»Da wäre ich mir nicht so sicher.«
Die beiden Mädchen stapften durch den hohen Schnee in Richtung Russell Square, und Emily gab sich alle Mühe, auf dem rutschigen Boden Halt zu finden. Sie konnte den Schnee riechen und fragte sich, was das alles zu bedeuten hatte. Zweifelte sie an den Worten ihres Mentors? Nein, es waren eindeutige Hinweise gewesen.
»Wir müssen in die uralte Metropole hinab«, sagte Emily.
»Allein?«
»Irgendwie«, murmelte Emily, die darauf auch keine Antwort hatte.
»Was sollen wir dort tun?« Aurora klang verzweifelt. »Niemals werden wir Mara allein finden und befreien können.«
»Wir sollen nach King’s Moan gehen.«
Aurora führte Emily, die sich an ihrem Arm festhielt.
Der Lärm des Verkehrs war jetzt näher.
»Als ich Wittgenstein fragte«, begann Emily laut zu denken, »ob er sich denn der Entscheidung der beiden anderen beuge, so wie er sich einst der Entscheidung des Senats gebeugt hatte, da hat er mit Ja geantwortet.«
Aurora verstand nicht.
»Und?«
»Der Senat rekrutiert Trickster für seine Belange«, erklärte Emily und erinnerte sich an den Tag, an dem sie davon erfahren hatte. Dass auch sie sich eines Tages würde entscheiden müssen. Zwischen dem, was gut war für die uralte Metropole und dem, was gut war für Emily Laing. »Wittgenstein hat sich widersetzt. Mylady Hampstead hatte ihm dazu geraten und ihn in seiner Entscheidung unterstützt.«
»Er hat sich der Entscheidung des Senats also gar nicht gebeugt.«
»Und ebenso wenig der Entscheidung, die Master Micklewhite und Miss Monflathers gefällt haben.«
»Du glaubst, er will uns helfen?«
»Ich soll meditieren und mich endlich beruhigen.« Das war ihr vorgeschlagen worden. »Die Steine soll ich dazu benutzen und außerdem nicht so viel jammern. Nicht einmal Könige, so hat er sich ausgedrückt, würden so viel jammern.« Emily war sich jetzt, wo sie es einmal aussprach, ganz sicher, dass keines dieser Worte zufällig gewählt gewesen war. »Wir sollen dorthin gehen, wohin Wittgenstein uns schon einmal geführt hat. Nach King’s Moan.«
»Drüben in Chelsea?«
Vage erinnerte sich Aurora.
»Selbst ein Blinder sieht diese Zeichen.« Emily schnitt eine Grimasse, als ihr bewusst wurde, was sie da gesagt hatte. Erklärte: »Die Steine hat Wittgenstein uns damals in der Taverne von King’s Moan geschenkt. Und spricht der Name der Gegend nicht für sich selbst?«
Aurora schwieg.
Des Königs Jammern.
King’s Moan.
Obgleich der überaus geräumige Rundtunnel, welcher sich unterhalb von Chelseas Hauptverkehrsader, der von unzähligen Boutiquen gesäumten King’s Road, befindet, seinen Namen jenen pfeifenden und heulenden Winden verdankt, die vom Norden her Richtung Themse wehen.
»Was sollen wir dort tun?«
»Frag lieber nicht.«
»Wird er uns dort treffen?«
Emily gab es zu. »Ich habe nicht die leiseste Ahnung. Aber er will, dass wir uns dorthin begeben.«
»Und wenn wir uns irren?«
»Dann sitzen wir immerhin nicht untätig in Wittgensteins Wohnung und langweilen uns zu Tode.«
Nicht das Beste aller Argumente.
Doch immerhin.
Ausreichend, um Aurora Fitzrovia zu überzeugen, die Piccadilly Line hinunter nach Hyde Park Corner zu nehmen, von wo die Mädchen über ein altes Siding unter einer der still gelegten Rolltreppen hinab in die uralte Metropole gelangten.
Emily konnte nur lauschen.
Dem Rattern der Züge und den schrillen Bremsen, wenn diese in den Bahnhof einrollten, dem Gitarrenspieler am Fuße der Rolltreppe, der traurig
My Back Pages
von Bob Dylan zum Besten gab, dem Gemurmel der Menschen, das sich mit dem Klappern ihrer Schritte auf dem Asphalt vermischte. Den Anweisungen Auroras, die ihrer Freundin rechtzeitig mitteilte, wo sie sich gerade aufhielten und in welche Richtung sie zu gehen hatten.
Den Weg, den sie nahmen, kannte Emily aus der Erinnerung. Noch immer war es seltsam, sich
Weitere Kostenlose Bücher