Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas
Nyx sie auserkoren hatte?
Emily fragte sich wieder einmal, wo sie stand.
Wem konnte sie trauen?
Der Kopf des Mädchens war angefüllt mit den Intrigen und Verheimlichungen, von denen sie, wie sie glaubte, selbst jetzt nur bruchstückhaft Kenntnis besaß. Jeder hier unten war auf seinen eigenen Vorteil bedacht.
Niemand kümmerte sich wirklich um Mara.
Sie war nur ein Kind, das jeder zu opfern bereit war.
Emily erinnerte sich an die Träume, die sie im Waisenhaus geplagt hatten.
Jene verwirrenden Emotionen, denen sie ausgeliefert gewesen war und die sie nicht hatte deuten können. Nicht einmal als die Ratte, jener mysteriöse Lord Brewster, sie angesprochen und gebeten hatte, ein Auge auf den Neuzugang zu werfen, hatte sie geahnt, dass ihre schlaflosen Nächte mit diesem Kind zu tun haben könnten. Sie hatte keine Ähnlichkeit zu dem zweijährigen Mädchen gesehen, das schlafend in seinem Bettchen gelegen hatte. Und doch war da eine Nähe zwischen den beiden gewesen, die Emily von Anfang an verwirrt hatte.
Hätte sie sich damals doch nur mehr mit ihrer Schwester beschäftigen können! Wenngleich Mara zu dem Zeitpunkt erst einige Wortfetzen zu sagen fähig gewesen war, hätte Emily ihr doch gerne aus den zerfledderten Bilderbüchern vorgelesen, die in dem Zimmer der Frischlinge überall auf dem Boden herumgelegen hatten. Manchmal hatte sie den anderen Kindern vorlesen dürfen. Ganz stolz hatte sie inmitten der kleinen Kinder gesessen, als sie endlich des Lesens mächtig gewesen war und Mrs. Philbrick ablösen konnte, die den Kindern hin und wieder eine Freude machen wollte.
Geschichten waren ihr schon immer wichtig gewesen.
Und wenn sie Mara endlich gerettet hätte und dies alles hier überstanden wäre, dann …
Was?
Mit einem Mal wurde sich Emily der Eiseskälte in der Hölle bewusst.
Niemals, schalt sie sich eine Närrin, würde sie Mara etwas vorlesen.
Mara würde mit einer blinden Schwester vorlieb nehmen müssen. Einer großen Schwester, die tollpatschig gegen Möbelstücke stieß und bei Tisch unbeholfen aß. Was wäre sie nur für ein Vorbild? Die Antwort auf diese Frage wollte sie sich selbst lieber nicht geben.
Wehmütig dachte sie an die wenigen Augenblicke zurück, die sie mit Mara geteilt hatte. Jene Stunden spätnachts, als sie in der Dachkammer des Hauses in Hampstead am Fenster gesessen und nach draußen geschaut hatte. Immerhin war Mara bei ihr gewesen. Und das, obwohl sie sich am anderen Ende der Stadt befunden hatte. Trotz dieser Entfernung hatte Emily in Bildern gespürt, was ihre Schwester empfand. War mit dem Blick eines Kleinkindes durch die Korridore Manderley Manors gewandert, hatte sich vor den tobsüchtigen Schreien der Mutter gefürchtet und den strengen Blick Miss Andersons gemieden. Ganz genau hatte sie Mara kennen gelernt in dieser Zeit. Dies, obwohl sie kein einziges Wort miteinander gesprochen hatten.
Ob Mara sie wohl vermisste?
Sich nach ihr sehnte?
Missmutig trottete Emily den anderen hinterher.
Einsam fühlte sie sich. Und leer.
Hilflos.
Aurora hielt sie bei der Hand, und Emily dachte, dass sie beide einen seltsamen Anblick bieten mussten: Zwei Schulmädchen, die Händchen haltend durch die Hölle wanderten.
Doch wollte sie sich nicht beklagen.
Was hätte sie denn ohne Auroras Hilfe ausrichten können? Nicht einmal die Schuhe konnte sie sich mehr binden. Nicht ohne Schwierigkeiten jedenfalls. Einfachste Tätigkeiten bereiteten ihr Probleme. Immerzu prallte sie gegen Gegenstände. Stieß Dinge um.
Nein, sie war dankbar dafür, dass es Aurora in ihrem Leben gab.
Dass sie ihr die Hand reichte.
Sie durch die Hölle geleitete.
»Nicht loslassen«, sagte Aurora immer dann, wenn sich Emilys Griff lockerte.
So fest hielt die Freundin manchmal ihre Hand, dass Emily dachte, sie wolle sie nie wieder loslassen. Als habe sie Angst, ihre Freundin in der Hölle zu verlieren.
Jegliches Zeitgefühl ging Emily verloren.
Lediglich einen Fuß vor den anderen setzte sie.
Lauschte den Geräuschen, die der Eispalast machte. Dem Knarzen des Eises, dem Heulen der Winde, die klirrend um jede Ecke wehten. Sie hörte die behutsamen Schritte der anderen, die ihr ein wenig Orientierung zurückgaben. Langsam lernte sie, die Geräusche zu deuten. In Tönen zu sehen. Zu erahnen, wie die Welt um sie herum aussah. Dunkel und dennoch geformt.
Ab und zu ertastete Emily die Wand.
Berührte den kalten Stein mit den Fingerspitzen.
Das half ihr, das Gleichgewicht zu bewahren.
»Es geht
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