Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas
und Richard Swiveller war, hatten wir Seiner Lordschaft nicht mehr mitteilen können, da er, nachdem er den Angriff auf Pairidaezas Kathedrale geleitet hatte, vom Erdboden verschwunden gewesen war.
Zufälle, dachte ich, gibt es eben keine.
Damals hatten wir uns um der Ratte Wohlergehen gesorgt.
Und war es jetzt nicht von Vorteil, dass wir niemals wieder etwas von ihr gehört hatten?
»Was habt Ihr vor?« Der Höflichkeiten waren genug ausgetauscht worden. Ich gedachte das Gespräch so kurz wie möglich zu gestalten.
Lord Mushroom wusste zweifelsohne, weswegen wir hier waren. Es bestand somit keinerlei Notwendigkeit, das Gespräch hinauszuzögern.
»Machen wir es also kurz.« Er zeigte erneut das Haifischgrinsen. »Ihr wisst, dass ich ein Bündnis mit dem Nyx eingegangen bin. Dass ich Mara in meine Gewalt habe bringen lassen.«
Wenngleich Emily den Mann nicht zu sehen vermochte, so war da noch immer die Stimme. Kalt. Höflich. Berechnend. Boshaft. Was hatte ihre Mutter nur gefühlt, als sie mit diesem Mann verheiratet worden war? Wie musste die Verzweiflung an ihr genagt haben, als sie erkannte, dass Blackheath ihr neues Heim sein würde. Diese Stimme hier, das wusste Emily Laing, hatte niemals Liebesbekundungen geflüstert.
»Sie befinden sich in keiner Geschichte, die gut ausgeht.« Während Seine Lordschaft sprach, schritt er in Richtung des Abgrunds. Die Andabataekrieger stießen uns mit den Stielen ihrer Äxte in den Rücken. Gezwungenermaßen folgten wir Lord Mushroom, dessen hohe Stiefel in der Höhle ein schauriges Echo von den Wänden warfen. »Ich habe vor, die uralte Metropole in meine Gewalt zu bringen. So wie es einst mein Vater vor mir versucht hat. Nur ausgemachte Narren in der Zelluloidwelt erklären dem Helden gegen Ende des Films die Beweggründe ihres Tuns.« Er blickte in den Abgrund hinein. »Wodurch der Held natürlich die Zeit gewinnt, die er benötigt, um siegreich aus der Geschichte hervorgehen zu können.«
Auch Emily stand jetzt vor dem Abgrund, und Bilder formten sich. Füllten sich mit Leben.
Mit einem Mal konnte sie wieder sehen.
Doch war es nicht ihr eigenes Augenlicht, das sie sehend machte. Sie blickte durch jemand anderes Augen in den Abgrund hinein. Der Abgrund, der nichts anderes war als ein rundes Loch von kaum zehn Metern Durchmesser, roch nach Feuchtigkeit. Wärme. Finsternis lag darin begraben. Undurchdringlich. Und Furcht. Wie eine Klaue, die plötzlich zupackt.
Das, was Emily sah, war ein Bild, das die Gefühle eines kleinen Kindes gemalt hatten, als das Kind hier gewesen war. In Blackheath. Am Rand des Abgrunds, vor dem auch Emily nun stand.
Auf einmal wirkte sie geistesabwesend.
»Emily?«
Sie reagierte nicht auf meine Worte.
Verdrehte die Augen. Unruhig zuckten ihre Lider.
Nur ein Wort flüsterte sie: »Mara.«
Ja, ihrer Schwester Erinnerungen strömten aus dem Abgrund herauf.
Überfluteten sie.
Ertränkten sie förmlich in einem Rausch aus Gefühlen, die Farbenspiele in tiefster Nacht waren. Erst jetzt, als die Bilder übermächtig zu werden drohten, wurde Emily bewusst, wie sehr sie es vermisst hatte, ihr Innerstes mit Mara zu teilen. Und wie sehr es Mara vermisst haben musste, ihrer großen Schwester zu sagen, was ihre Lippen niemandem sonst zu sagen bereit waren.
Es war ein Zustand vollkommenen Glücks, den Emily erlebte.
Der sie überkam.
Denn sie wusste mit einem Mal, dass Mara noch lebte. All die Befürchtungen, die sie beinah hatten verzagen lassen, wurden dahingeweht in der warmen Strömung des Abgrunds. Emily atmete schneller. War ganz aufgeregt, weil es Bilder waren, an die sich jemand erinnerte. In eben diesem Augenblick. Wo immer Mara sich befand, sie erinnerte sich an das, was Emily nun zu sehen vergönnt war. Schickte ihr vielleicht sogar mit voller Absicht diese Bilder. Blackheath mit all dem Moos und den Pfützen brackigen Wassers. Mushroom Manor, das schwarze Haus, dessen von Eisblumen überwucherte Fassade ein Gesicht war, das niemals lächelte. Der Abgrund, der sich einfach so im Boden auftat. Fast sah er aus, als habe sich ein Strudel inmitten des Gesteins gebildet, dieses in feinsten Sand verwandelt und sich immer tiefer in die Erde gebohrt. Jemand war da. Neben ihr. Nein, korrigierte sie sich. Jener Mann, dessen Schatten sich mit dem des Abgrunds verbunden hatte, war bei ihrer Schwester gewesen. Als man sie hergebracht hatte. Emily drehte den Kopf und sah in das Gesicht des Mannes, das sie nur zu gut kannte. Steerforth, der
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