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Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas

Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas

Titel: Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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also nicht immer giftig?«
    »Gift kann den Körper und den Geist vergiften«, erklärte ich Aurora. »Aber Gift kann auch Gift vergiften.«
    »Als eine Art Medizin?«
    »Ein Gegengift«, fasste Emily zusammen.
    »Sie sehen, Miss Emily, es kommt immer darauf an, wozu man es einsetzt.«
    Emily überlegte kurz. »Dann sind Sie eine Art Arzt?«
    »Ich bin ein Alchemist«, verbesserte ich sie. »Es gibt Unterschiede zum Beruf des Arztes, so wie er Ihnen beiden bekannt sein dürfte.«
    »Die wären?«
    Dieses Kind!
    Maurice Micklewhite drehte sich um und grinste.
    »Fragen Sie nicht!«
    »Ja«, lachte Maurice laut, »fragen Sie ihn nicht dauernd.«
    Ich zog eine Grimasse.
    Als wollte sie mir einen Gefallen tun, wechselte sie das Thema.
    »Wer ist dieser Lordkanzler von Kensington?«
    Maurice Micklewhite schaltete sich erneut ein. »Jemand mit Humor.«
    Emily verstand in keinster Weise, was er damit meinte.
    »Der Name, den er angenommen hat«, erklärte Maurice geduldig, »gehörte einst einem gefallenen Engel. Dieser Engel, so sagt man, hat in der alten Welt viel Unheil angerichtet.«
    »Manche behaupten sogar«, merkte ich an, »es sei der Teufel gewesen.«
    »Der Teufel soll hier unter London leben?«
    Dieses Kind!
    »Seien Sie nicht albern«, entgegnete ich Emily. »Er hat diesen Namen nur gewählt, um Angst zu säen. Abezi Thibod. Das klingt nicht gerade einladend.«
    »Wohl eher nicht.«
    »Namen können große Macht besitzen, und wer sich vor Namen fürchtet, der wird von ihnen beherrscht.« Maurice Micklewhites Stimme fand ein unheilvolles Echo im Tunnel. »Wer auch immer der Lordkanzler von Kensington sein mag, seinen Namen hat er bedächtig gewählt.«
    »Glauben Sie, dass er die Spinnen vergiftet hat?«, fragte ausgerechnet Aurora.
    »Vielleicht.«
    »Vielleicht auch nicht«, sagte ich.
    Die Erinnerung an die Szene im Herzen von Chelsea ließ erneut Schatten in die Kinderaugen zurückkehren. Eine halbe Stunde nach unserer aufschlussreichen Begegnung mit dem Arachniden hatten wir die Hauptstadt passiert, das Zentrum des Reiches, jenes Höhlensystem, wo die fette Königin ihre Eier legte und nach vollzogener Begattung die Männchen auffraß. Generationen lang waren hier die neuen Söhne und Töchter gezeugt worden, hatten die Düsternis der Abwasserkanäle erblickt, um von dort aus ans Tageslicht zu krabbeln, wo sie endlich ihre schillernden Netze spannen und sich an feisten Faltern und fauligen Fliegen erfreuen konnten. Doch war der Anblick, der sich uns bot, ein geringfügig anderer als jener, den ich erwartet hatte. In meiner Jugend war ich einst dort unten gewesen und hatte mit Mylady Hampstead die uralte Metropole erkundet, wobei wir den Arachniden einen Besuch abstatten durften.
    »Was ist hier nur geschehen?«, fragte Emily.
    Aurora begnügte sich damit, den Saum der Jacke ihrer Freundin zu umklammern.
    »Sie sterben«, musste Maurice Micklewhite schockiert feststellen.
    Dem konnte ich nur beipflichten.
    Dort, wo einst hoch gewachsene Spinnengestalten die Besucher begrüßt hatten, regierte nun das Chaos. Einige Körper liefen noch auf zwei Beinen umher oder krochen mit nur zwei Gliedmaßen am Boden entlang, verzweifelt bemüht, die Form zu bewahren. Doch selbst diese Körper verloren noch an Kontur, weil sich andauernd Spinnen aus der Formation lösten, zu Boden plumpsten und dort aufgeregt umherliefen. Die Söhne und Töchter waren dem Irrsinn erlegen. Vor lauter Angst und Verzweiflung hatten sie damit begonnen, übereinander herzufallen. Ausgetrocknete Spinnenleiber lagen überall, verdorrte Körper in einer brennenden Welt.
    »Kein Lebewesen kann ohne einen Willen existieren«, hatte Maurice gemurmelt.
    Die Mädchen hatten sich eng aneinander geklammert.
    Mir fiel nur ein einziger Vorschlag ein: »Lasst uns schnell verschwinden.«
    Maurice stimmte mir zu.
    Die Arachniden waren unberechenbar geworden, suchten Blut ohne Sinn und Verstand. Wir sahen nicht, was mit der Königin geschehen war. Wir sahen auch nicht, was mit den letzten Körpern geschah. Wir erfuhren nie, was aus dem Spinnenmann wurde, den wir an Arachnidas Gabel getroffen hatten.
    Wir verließen die Spinnen und setzten eiligen Schrittes unseren Weg nach Kensington fort.
    »Niemand«, sagte Maurice zu den beiden Mädchen, »der ein Herz in sich schlagen spürt, tut so etwas.«
    »Sie glauben also wirklich, dass der Lordkanzler hinter alldem steckt?«
    »Vielleicht«, antwortete Maurice Micklewhite.
    »Vielleicht auch nicht«, merkte ich

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