Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas
erschrak über den Klang ihrer Stimme. Eigentlich hatte sie gar nichts sagen wollen.
Jetzt wandte ihr das Spinnenwesen kurz seine Aufmerksamkeit zu.
Hundert Kiefer knackten: »Es gibt keine Heilung.«
»Ich dachte ja nur …«
»Wir danken Ihnen für das Mitgefühl.« Es stand außer Zweifel, dass der Arachnide kein Interesse daran hatte, sich weiter mit einem Mädchen zu unterhalten.
Erneut gebot ich Emily zu schweigen.
Sie nickte mir folgsam zu.
»Es ist ein Gift«, fuhr der Arachnide fort. »Wir erlegten einen Wolf. Das ist keine vier Wochen her. Wir labten uns an ihm bis auf den letzten Tropfen. Er war lediglich Nahrung gewesen. Keinen weiteren Gedanken verschwendeten wir an die Beute. Dann stellten wir fest, dass etwas mit dem Nachwuchs nicht stimmte. Die Söhne und Töchter sind so verwirrt.«
Emily betrachtete die Spinnen, die vom Körper abfielen. Es waren ausnahmslos junge Spinnen. Bei genauerem Hinsehen erkannte man, dass die schwarzen Leiber noch nicht ausgewachsen waren.
»Sie folgen nicht länger den kollektiven Stimmen«, erklärte der Spinnenmann. »Die Gemeinschaft zerfällt. Es war Gift im Blut des Wolfes. Ein Köder, ausgelegt vom Lordkanzler Kensington.«
Emily verzog angewidert das Gesicht ob dieser Hinterlist und Niedertracht.
»Er sucht den offenen Konflikt?« Maurice Micklewhite klang ungläubig.
Aurora klammerte sich nach wie vor an ihre Freundin.
Wie viel, fragte ich mich, verstanden die beiden Mädchen wohl von alledem?
»Der Sieg ist bereits seiner«, stellte der Arachnide fest. »Wir zerfallen. Auch andere von uns lösen sich auf. Es geschieht langsam, doch stetig. Wir können gar nichts dagegen tun. Die neugeborenen Söhne und Töchter sind unfähig, dem Leid Einhalt zu gebieten.«
Es fiel mir schwer, ihm zu glauben. »Die gesamte Kolonie?«
Der Spinnenmann wankte unmerklich und antwortete: »Überall unter Chelsea lösen sich die Arachniden auf. Es ist ein Übel, das die arachnide Gemeinschaft vollständig dahinraffen wird.«
Eine verlegene Stille breitete sich aus. Selbst Dinsdale wirkte gedimmt.
»Werdet Ihr Kensington aufsuchen?«, wollte der Spinnenmann von mir wissen.
»Wenn die Wölfe das Kind dorthin gebracht haben, dann ist das der Pfad, dem wir folgen werden.«
Fünf Spinnen fielen der Gestalt aus dem Kopf, plumpsten auf den Boden und krabbelten dort aufgeregt und ohne erkennbares Ziel umher. »Eine sichere Reise erflehen wir für Euch. Passiert Chelsea ohne Furcht. Kein Arachnide wird Euch den Weg verwehren.« Die Spinnenkreatur wankte leicht. Die Krankheit musste schon fortgeschritten sein.
»Wir danken für die aufrichtigen Worte.«
Maurice Micklewhite ergänzte: »Und die sichere Passage durch das Gebiet von Chelsea.«
Der Arachnide nickte kurz.
Dann fiel er in sich zusammen.
Der große Körper löste sich in Windeseile in die Hundertschaft kleiner Spinnenkörper auf, die allesamt hektisch über den Boden wuselten, um letztlich in den Schatten und den Ritzen zwischen den Mauersteinen zu verschwinden.
»Sind sie weg?«, erkundigte sich Aurora zögerlich und blass.
Emily beruhigte sie. »Ich glaube schon.«
»Sie sind fort«, stellte ich klar.
Maurice Micklewhite kratzte sich nachdenklich am Kinn. »Der neue Lordkanzler von Kensington also.«
»Sie haben von ihm gehört?«, fragte Emily.
»Dies und das«, lautete die dürftige Antwort.
»Der Gerüchte gibt es viele«, fügte ich hinzu. »Die uralte Metropole ist voller Geschichten. Doch kann man sich des Wahrheitsgehaltes dieser Erzählungen nie ganz sicher sein.«
Emily wirkte nachdenklich.
Erneut betrachtete sie den toten Wolf, der zusammengekrümmt am Fuße der Skulptur lag. Mitleid spiegelte sich in ihrem gesunden Auge, die Dunkelheit der vor uns liegenden Tunneleingänge auf der gläsernen Oberfläche des anderen. Sie wechselte kurze Blicke mit ihrer Freundin, die den Ekel, den der Arachnide heraufbeschworen hatte, noch immer nicht überwunden hatte. Wenn Emily mich fragend ansah, wie sie es zuweilen zu tun pflegte, dann war sie wieder das kleine Kind, als das wir sie eigentlich hätten sehen sollen. Sie war nicht die talentierte Trickster, die uns den Weg weisen sollte, sondern ein einfaches Mädchen, das hier unten in der uralten Metropole nichts zu suchen hatte. Sie war eine Waise, allein und ohne erkennbare Zukunft.
Seltsamerweise begann ich allmählich, mich wie ihr Mentor zu fühlen.
Ein Gefühl, das mir fremd war.
»Was tun Sie eigentlich?«, fragte sie mich später.
Wir hatten
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