Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas
Arachnidas Gabel bereits seit geraumer Zeit hinter uns gelassen und wanderten entlang der Handelsroute hinauf nach Kensington. Die Tunnel führten aufwärts. Brackiges Wasser tropfte von den Wänden und bildete schmale Rinnsale auf dem Boden. Dinsdale fluchte in seinem Manchesterdialekt vor sich hin. Irrlichter mögen nun einmal keine Feuchtigkeit.
»Ich folge Maurice Micklewhite, der, wie ich hoffe, den Weg kennt«, antwortete ich kurz angebunden.
Emily verzog das Gesicht. »So habe ich das nicht gemeint.«
»Genau das aber haben Sie gefragt.«
»Was ist Ihr Beruf?«
»Diese Frage, kleine Emily, ist besser formuliert.«
»Beantworten Sie sie mir auch?«
Ich sah auf sie hinab. »Was glauben Sie denn, was ich tue?«, stellte ich die Gegenfrage.
Emily erinnerte sich der seltsamen Gegenstände in meiner Wohnung. »Sind Sie ein Hexer?«
Dieses Kind!
»Was in aller Welt verleitet Sie denn zu dieser absurden Annahme?«
Emily konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. »Fragen Sie nicht«, entgegnete sie rasch und fixierte mich neugierig.
Missbilligend nahm ich die Parodie meiner Person zur Kenntnis.
»Ich braue Tränke und befasse mich mit Steinen«, erklärte ich.
Maurice Micklewhite drehte sich kurz zu uns um und brachte es auf den Punkt. »Er ist ein Alchemist, kleines Fräulein, und ein guter obendrein.«
Aurora schaltete sich unnötigerweise ein: »Ein Alchemist?«
»Sowie Inhaber eines Lehrstuhls am Whitehall College«, merkte ich an.
»Was tut ein Alchemist?« Aurora blieb hartnäckig.
»Er braut Tränke und befasst sich mit Steinen«, wiederholte ich unwirsch.
Emily grinste.
Konnte es sein, dass sie ein Gespür für Humor entwickelte?
»Ich beschäftige mich mit der Natur der Natur«, erklärte ich den Kindern nach kurzem Zögern. »Mit den Kräften, die alles Lebendige durchdringen. Pflanzen besitzen ungeahnte Heilkräfte und können gleichsam tödliche Waffen sein. Steine können atmen und dem Körper Ängste nehmen und Kräfte wecken. Ich destilliere die Aura der Natur und verkorke sie in Flaschen. Ich leihe den Pflanzen mein Ohr und lausche ihren Ratschlägen.«
»Ist das Magie?«
Maurice Micklewhite lächelte wissend. »Haben Sie schon einmal einen Sonnenuntergang betrachtet, Miss Fitzrovia? Sahen Sie des Nachts die Sterne durch das Fenster im Schlafsaal des Waisenhauses? Fühlten Sie sich glücklich, weil ein frischer Windhauch Ihr Gesicht streifte?«
Aurora nickte.
Emily tat es ihr gleich.
»Magie ist eine Empfindung«, fuhr Maurice Micklewhite fort, »die uns jederzeit umgibt. Doch ist Magie deswegen gleichzusetzen mit Zauberkraft?« Er wartete die Antwort nicht einmal ab. »Mitnichten. Denn Magie liegt in unserem Blick verborgen. Wir erschaffen sie, wenn wir offen sind für die Schönheit des Augenblicks. Die Magie, die wir sehen, ist nichts anderes als die Magie, die wir in uns tragen.«
»Ein Alchemist«, übernahm ich, »schult seinen Blick für die Schönheit der Natur.«
»Sie versuchen, diese Schönheit festzuhalten.«
Schlaues Kind!
»Doch Schönheit kann auch bösartig sein. Haben Sie jemals einen Arachniden beim Speisen beobachtet?«
Die beiden Mädchen verzogen angeekelt das Gesicht.
»Wir sind auch gar nicht scharf darauf.«
Emily nickte zustimmend.
»Selbst der Tod ist schön«, sagte ich. »Erst durch den Tod erhält das Leben seinen Wert. Erst durch die Angst des Verlustes wissen wir die Gesellschaft des geliebten Menschen zu schätzen.« Ich sah die Mädchen eindringlich an. »Es gibt Tränke, die das Leben verlängern, und solche, die es nehmen. Es gibt Säfte, die Trauer und Schmerz bewahren.«
»Wenn sie jemand trinkt?«
Ich machte eine wegwerfende Handbewegung. »Fragen Sie lieber nicht!«
»Besitzen Sie derartige Tränke?«, wollte Aurora wissen.
»Ich bin Alchemist«, gab ich zur Antwort. »Doch kommt es darauf an, wozu man sie einsetzt.«
Emily wirkte verängstigt.
Sie dachte an die Todeserfahrung mit dem Wolf.
Schlug den Kragen ihrer Jacke hoch, als habe sie ein eisiger Wind gestreift. »Haben Sie es einmal getan?«
Dieses Kind!
»Natürlich«, gab ich zu, »doch sollte Sie das mitnichten ängstigen. Überschlägt sich eines Menschen Herz vor Freude und trinkt er dann bitteren Schmerz, wird sich sein Blick verfinstern und die Seele langsam verdorren. Trauert aber jemand um einen Dahingeschiedenen, so vermischt sich der Schmerz des Trankes mit demjenigen des Trauernden und schenkt dem betreffenden Menschen neue Kraft.«
»Dann ist der Trank
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