Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas
Nichts geschieht ohne Grund. Es wird der Augenblick kommen in eines jeden Leben, in dem alles seinen Sinn erhält.«
»Bedenken Sie«, schaltete sich Maurice Micklewhite ein, »dass Steine voller lebendiger Energie sind. Zu viele Menschen glauben, sie haben es mit erdiger, toter Materie und lebloser Kälte zu tun. Sie haben verlernt, das Pulsieren und die Wärme zu spüren, die von einem Stein ausgehen können. Wenn ein Stein ein Lebewesen als seinen Gefährten erwählt, so ist dies ein magischer Moment.«
Die alte Rättin hatte es gewusst.
Es gibt keine Zufälle.
Emily berührte nacheinander ihre vier Steine. Strich behutsam mit dem Finger über die glatten und rauen Oberflächen. Nahm einen Stein nach dem anderen in die Hand und umschmeichelte ihn mit den Fingern. »Es tut gut«, sagte sie nachdenklich, »sie zu fühlen.« Dann legte sich ein Schatten über ihr Gesicht. Mit dem Finger berührte sie ihr Glasauge. »Es ist kalt und leblos«, sagte sie. »Gar nicht so wie die Steine in meiner Hand. Wissen Sie, ich habe nie das Gefühl gehabt, dass dieses Auge wirklich zu mir gehört. Es ist zwar schon so lange da, aber eigentlich ist es mir fremd. Es ist ein fremdes Auge in meinem Gesicht. Es ist schwer, und es ist kalt. Und manchmal habe ich Angst davor, es wieder in die Augenhöhle einzusetzen.« Sie lächelte gezwungen. »Ist doch verrückt, oder?«
»Nein, ist es nicht.«
»Sie denken bestimmt, ich sei verrückt, vor so was Angst zu haben. Es ist doch nur ein Ding.«
»Dinge haben aber große Macht über uns Sterbliche, Miss Emily.«
Sie musste an Reverend Dombey und seinen Sohn denken, an die weiß geschminkte Madame Snowhitepink, an den missgelaunten Mr. Meeks und die vielen seltsamen Kunden, die sich die Klinke im Waisenhaus in die Hand gaben, um mit den Kindern in einer mit Sicherheit noch schlechteren Welt zu verschwinden, als die meisten Waisenkinder es sich zu ahnen erlaubten.
»Machtgier, Geltungsdrang und Habsucht«, sagte Maurice Micklewhite, »sind die Götter der neuen Zeit. Die Menschen huldigen den Dingen. Sie verehren die Götzen der Zivilisation. Sie verkaufen ihre Seelen an die dunklen Träume von Reichtum und Macht. Die alten Götter nannten Tugenden ihr Eigen. Mitgefühl. Warmherzigkeit. Toleranz. Doch glaubt niemand mehr an die alten Götter, die den Menschen einst gezeigt haben, was Menschsein bedeutet.«
»Warum ist das so?«, wollte Aurora wissen. »Wie konnte es so weit kommen?«
»Die Magie, die wir sehen, ist die Magie, die wir in uns tragen. Wenn wir den Blick vor der alltäglichen Magie verschließen, so verschwindet sie schnell aus den Herzen. Zurück bleibt nur Leere. Man sieht keine Schönheit mehr. Und man versucht, diese Leere auszufüllen.«
»Zu viele Menschen füllen diese innere Leere mit Dingen aus, mit Sachen, Gegenständen. Niemand erfreut sich mehr daran, den Frühling zu riechen, Winter und Herbst zu schmecken. Der Sommer ist jederzeit verfügbar. Missfällt mir der Winter, dann kaufe ich mir den Sommer. Alles, was ich tun muss, ist ein Flugzeug zu besteigen. Ich kaufe mir den Sommer wie einen Gegenstand, und so verliert der Sommer von der Magie, die ihm einst innewohnte. Was mich einst erfreute, wird zu einer Sache. Ein Schmetterling, der sich auf einer Mülltonne niederlässt, bleibt unbeachtet. Stattdessen werden Reichtümer angehäuft. Die Menschen wünschen sich Dinge um der Dinge willen. Besitz wird zum Selbstzweck.«
»Wie die Reichtümer des Reverends«, stellte Aurora fest. »Die Kinder behaupteten, er habe das Geld von unseren richtigen Eltern erhalten, die dafür bezahlt haben, sich nicht mehr mit uns abgeben zu müssen.«
»Die Beweggründe vieler Menschen sind bösartiger Natur«, sagte ich nur.
»Deswegen weilen die alten Götter nicht mehr unter uns«, offenbarte Maurice den Kindern. »Schon vor Jahren sind sie auf die Wanderschaft gegangen, suchen ruhelos nach einem Ort, an dem sie weiterleben können. Überall auf der Erde trifft man auf sie. Gefallene Engel und mürrische Gottheiten, die den Glauben an sich selbst und die Menschheit verloren haben. Deswegen ist es kalt geworden in der Welt da draußen. Deswegen steht die Welt Kopf.«
Die beiden Mädchen lauschten angestrengt.
»Sie meinen, all die Götter, von denen wir im Waisenhaus gehört haben«, hakte sie nach, »die gibt es wirklich?«
Dieses Kind!
»Natürlich«, antwortete ich. »Jedes Land hatte mächtige und gewissenhafte Götter, die über das Schicksal der Menschen und
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