Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas
an.
Emily schien sich bereits an Antworten dieser Art gewöhnt zu haben.
Jedenfalls verließ kein Wort der Missbilligung ihre Lippen.
Mutig wanderte sie durch die düsteren Tunnel, folgte dem Leuchten Dinsdales und den Aufforderungen Maurice Micklewhites und meiner Person, den Blick nach vorne gerichtet, als gäbe es nichts zu verlieren.
»Was werden Sie tun, wenn wir dort sind?«, wollte Emily wissen.
»Beim Lordkanzler von Kensington?«
Sie nickte.
»Wir werden ihm einige Fragen stellen.« Ich blieb kurz stehen und beugte mich zu ihr hinunter: »Wir werden ihn förmlich mit Fragen löchern, Miss Emily.«
»Etwa so, wie ich es mit Ihnen tue?«
»Nein, nicht ganz so schlimm«, erwiderte ich.
Emily quittierte diese Bemerkung mit einem Lächeln. Sie wusste, wie es gemeint war.
Kapitel 6
Knightsbridge
Die Steine, und das sollte unbedingt Erwähnung finden, erwählten Emily Laing, noch bevor wir Knightsbridge erreichten und es zu den unglückseligen Ereignissen kam, die ungeschehen zu machen nun nicht mehr möglich ist. Vielleicht war aber auch Emily diejenige gewesen, die eine Wahl getroffen hatte.
»Nehmen Sie spontan denjenigen Stein, der Ihnen auffällt«, forderte ich sie mit ruhiger Stimme auf.
Vor uns auf dem runden Tisch lagen säuberlich ausgebreitet zwanzig Steine unterschiedlichster Art und Beschaffenheit, Form und Größe. In den vielfältigsten Farben und Schattierungen funkelten sie im matten Licht der Schänke.
»Bewerten Sie nicht«, riet ich ihr, »denken Sie nicht einmal über den Namen des Steins nach. Schauen Sie einfach nur hin und greifen Sie zu.«
Wir befanden uns unterhalb von Chelseas Hauptverkehrsader, der von unzähligen Boutiquen gesäumten King’s Road: in King’s Moan, einem geräumigen Rundtunnel, der seinen Namen den pfeifenden und heulenden Winden verdankt, die vom Norden her Richtung Themse wehen. Reisende werden von alters her eingeladen, in einer der vielen Schänken zu verweilen, die zu beiden Seiten des Tunnels aufgereiht sind. Die unsrige trug den klangvollen Namen Chuzzlewitt’s Taverne.
Kunstvolles, mattbuntes Zierglas schmückte die Wände neben der hölzernen Bar mit der dunklen Mahagonitheke, hinter der ein mürrischer Eastender alle Arten von Getränken feilbot. Fahrende Gildehändler lungerten in den düsteren Ecken herum, spielten Cribbage, Domino oder Darts. Ruchlose und ehrhafte Wanderer tauschten Geschichten aus. Ein liederlicher Barde in bunten, löchrigen Beinkleidern sang lauthals
Spanish Lady
und forderte die an der Theke sitzenden, grimmig dreinschauenden Jäger zum Mitsingen auf.
»Wir sollten uns noch stärken, bevor die Reise weitergeht«, hatte Maurice Micklewhite vorgeschlagen, nachdem wir die Kolonie der Arachniden hinter uns gelassen hatten und den Pfaden hinauf nach Kensington folgten.
Niemand hatte auch nur im Entferntesten daran gedacht, ihm zu widersprechen.
Die tief an den holzvertäfelten Wänden hängenden Gaslampen tauchten den großen Raum in lange Schatten. Wir hatten uns einen Platz in einer entlegenen Ecke gesucht, wo uns das Kaminfeuer angenehme Wärme in die Glieder kriechen ließ.
Es gab überaus schmackhaftes Essen in Chuzzlewitt’s Taverne; die Schänke ist schließlich nicht wegen ihres Namens berühmt geworden. Zweimal kaltes Laverbread, bestehend aus frittierten dunklen Algen, mit Toast und frischen Schalentieren aus Southwark sowie zweimal heiße Cornish Pastys mit rotem, grünem und schwarzem Gemüse für die beiden vorsichtig die Speisekarte beäugenden Mädchen.
»Wie kann man so etwas nur essen?«, hatte Aurora gemurmelt und unserer Mahlzeit einen skeptischen Blick zugeworfen.
»Man ist hungrig«, hatte ich erwidert, »und darüber hinaus mundet es uns.«
»Köstlich!«
Die beiden Mädchen nahmen es zur Kenntnis.
Tranken statt des herzhaften Draught Bitters gezuckerten Kräutersaft.
Dann schritten wir zur Wahl der Steine.
»Ich nehme den hier«, sagte Emily schnell und streckte die Hand nach einem flachen, glatten, hellen Stein aus. Hielt ihn sich vor das Gesicht und betrachtete ihn fasziniert.
»Ein Bernstein«, sagte ich.
»Wozu ist er gut?«
»Er hilft bei Ratlosigkeit, beherbergt Sonnenlicht und Lebensfreude. Zudem besitzt er Heilkräfte verschiedenster Art.«
Emily betrachtete aufmerksam den Stein in ihrer Hand und lächelte zufrieden.
»Wählen Sie erneut!«
Maurice und Aurora, die ebenfalls am Tisch saßen, beobachteten die Geschehnisse gespannt.
Emily tippte mit dem Finger auf einen
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