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Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas

Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas

Titel: Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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wir in die Weiten der Höhle hinaustraten.
    Ein kalter, unangenehmer Wind blies uns ins Gesicht. Die Kinder knöpften ihre Jacken zu und zogen die Köpfe ein.
    Staunend blickten die beiden Mädchen auf die riesige Skulptur.
    »Er ist aus Stein«, stellte Aurora fest.
    »Er sieht unheimlich aus.«
    Maurice Micklewhite trat an uns vorbei. »Er wird uns Fragen stellen, und nur wenn wir die Fragen beantworten können, wird er uns freie Passage gewähren.«
    Immer wieder eine heikle Angelegenheit, dachte ich mir.
    Emily betrachtete den Ritter genauer.
    Die Gestalt mochte eine Höhe von sechzehn Fuß haben. Rußiger Schmutz bedeckte den roten Stein, aus dem die Gestalt gehauen war. Ein prächtiger Helm mit spitzem, raubvogelartigem Visier schmückte den massiven Kopf mit den großen, leeren Augen und dem buschigen Vollbart. Die Hand der Gestalt umfasste fest den Griff eines langen Schwertes, das am Gürtel des Ritters hing. Breitbeinig überragte die Gestalt die Brücke.
    Mit einem Mal öffnete die Gestalt ihre Augen, und eine dröhnende Stimme erfüllte die Höhle. »Was ist Euer Begehr, Wanderer in der Dunkelheit?« Ein tiefer Bariton hallte von den Wänden wider.
    »Wir erbitten die Passage über die Brücke«, rief Maurice Micklewhite, der vorgetreten war.
    »Ihr müsst den Wegzoll entrichten, wie alle, die vor Euch kamen, und alle, die nach Euch kommen werden!«
    »So sei es«, antwortete Maurice Micklewhite, dessen weißer Mantel im Wind wehte, der aus den Tiefen kam.
    Nachdem wir die Taverne in King’s Moan verlassen hatten, hatte ich den Kindern erklärt, dass wir dem Scharlachroten Ritter romantische Gedichte würden zitieren müssen. »Er wird einen Vers beginnen, und wir werden die Zeilen beenden müssen.«
    Aurora hatte die Stirn in Falten gelegt. »Das ist doch total verrückt.«
    »Warum tut er das?«, hatte Emily wissen wollen.
    »Es gibt viele widersprüchliche Mythen diesbezüglich, von denen natürlich jeder einzelne den Anspruch erhebt, wahr zu sein. Letzten Endes weiß man nicht, warum er es tut. Der Scharlachrote Ritter ist schon immer an diesem Ort gewesen. Niemand weiß, wer oder was zuerst da gewesen ist; die Brücke oder der Scharlachrote Ritter. Jetzt jedenfalls gehören sie zusammen, bilden eine Einheit. Man kann die Brücke nur dann passieren, wenn man gemeinsam mit dem Scharlachroten Ritter Liebeslyrik rezitiert.«
    Jetzt, da Emily dem Scharlachroten Ritter gegenüberstand, dieser großen steinernen Figur, die jederzeit, wenn ihr ein Zitat missfiel, mit dem steinernen Schwert auf die Wanderer einschlagen würde, empfand das Mädchen Furcht.
    »Lasst uns beginnen«, tönte der Ritter laut.
    Dinsdale flog eine Warteschleife in der rabenschwarzen Nacht über dem Abgrund.
    »Lauscht und sprecht!«, begann der Ritter die Prüfung.
    Alle Anwesenden wirkten angespannt und konzentriert.
    »
Tell me not I am unkinde, / That from the Nunnerie
«, brummte die steinige Stimme. Der Bass ließ feine Sandkörner von der unsichtbar im Dunkel liegenden Höhlendecke rieseln.
    Die beiden Mädchen sahen mich erwartungsvoll an.
    Leider war dies keines der Gedichte, die mir bekannt waren.
    »Man muss die Zeile beenden und den Verfasser nennen«, hatte ich den Mädchen erklärt. »Dann erst wird der Scharlachrote Ritter zufrieden sein.«
    Maurice Micklewhite reagierte schnell: »
Of thy chaste breast, and quiet minde, / To Warre and Armes I flie. / True; A new Mistresse now I chase, / The first Foe in the Field; / And with a stronger Faith imbrace / A Sword, a Horse, a Shield
. Geschrieben von Richard Lovelace.«
    Das steinerne Haupt nickte knarzend.
    Staub stob vom Gesicht des Ritters, als sich der Kopf bewegte. »Lauscht und sprecht!«, fuhr er fort. »
When we two parted / In silence and tears
.« Der riesige Kopf drehte sich und beäugte uns gestreng.
    Dennoch war dies eine einfache Prüfung. »
Half broken-hearted, / To sever for years, / Pale grew thy cheek and cold, / Colder thy kiss; / Truly that hour foretold / Sorrow to this
. George Gordon, Lord Byron.«
    »Trefflich«, kam es dröhnend vom Ritter.
    Emily lächelte.
    Erleichtert.
    »Lauscht und sprecht!« Er ließ uns keine Pause zuteil werden. »
The Owl and the Pussy-Cat went to sea / In a beautiful pea-green boat!
«
    Maurice Micklewhite sah mich ratlos an.
    Mir selbst waren jene Zeilen ebenfalls unbekannt. Unruhig warf ich einen Blick auf den Ritter. Scharlachroter Staub wirbelte auf, als er drohend das Schwert einen Spaltbreit aus der Scheide zog.

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