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Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas

Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas

Titel: Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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beiden drängelten sich zwischen all den Leibern hindurch und standen schließlich mitten im Straßenverkehr. Autos hupten die Kinder wütend an, als sie verdutzt und orientierungslos über die Straße torkelten. Emily zog Aurora schnell hinter die nächste Straßenecke, sodass sie dem Chaos vor der Finchley Road entkamen. Dinsdale surrte um ihre Köpfe herum, und sobald sie einige Straßen weiter vor einer schmutzigen, spärlich beleuchteten Unterführung standen, schwebte er ganz nahe bei Aurora und leuchtete aus Leibeskräften.
    Emily hatte Recht behalten.
    Der Bernstein hatte das Irrlicht zu heilen vermocht. Er hatte ihm die verlorene Sonnenenergie zurückgegeben.
    Flink umkreiste Dinsdale die zitternde Aurora, und für das menschliche Auge, das Bewegungen dieser Schnelligkeit nicht wahrnehmen kann, sah es so aus, als umgäbe ein überirdischer Schein das dunkelhäutige Mädchen. Langsam trocknete ihre Kleidung, verloren die Lippen den blauen Schimmer, erstarb das schüttelfrostige Bibbern. Das krause Haar trocknete, und der Lebensfunke kehrte in die dunklen Augen zurück.
    »Danke«, hauchte sie.
    Dinsdale schien sich zu freuen.
    Emily schaute besorgt zu den Treppenstufen der Unterführung.
    »Ich hoffe, wir haben die beiden abgeschüttelt.«
    »Jemand hat auf sie geschossen«, bemerkte Aurora. »Ich glaube, dass die Polizei sie verhaftet hat.«
    Niemand darf in London ungestraft mit einer Armbrust herumhantieren und Leute abschießen, dachte Emily. Andererseits wusste sie nicht, was das für Kerle gewesen waren und über welche Kräfte sie verfügten.
    »Wir sollten kein Risiko eingehen«, schlug sie deshalb vor und half Aurora auf die Beine.
    »Was sollen wir jetzt tun?«
    Emily überlegte kurz. »Ich glaube, wir sind hier ganz in der Nähe von Wittgensteins Haus.«
    Vorsichtig stiegen sie die Treppenstufen hinauf und lugten die Straße entlang.
    Es mochte früher Abend sein. Unzählige Passanten bevölkerten noch die schmalen Gehwege und hasteten durch das Schneegestöber. Es kam Emily so vor, als wollte der Schnee die ganze Stadt unter sich ersticken.
    »Wir sind in der Prince Albert Road«, stellte Emily mit einem Blick auf das Straßenschild fest.
    »Die kenne ich«, antwortete Aurora. »Dort drüben ist der Regent’s Park. Wenn wir durch den Park gehen, dann müssten wir Marylebone bald erreichen.« Sie wirkte einen Moment lang unsicher. »Glaubst du denn, wir finden Wittgensteins Haus?«
    Emily zögerte. »Ich glaube schon. Ja. Aber … vielleicht ist ihm etwas zugestoßen.«
    Aurora blickte sie skeptisch an.
    »Ich meine, wer sagt denn, dass auch wirklich er selbst in seinem Haus auf uns wartet?«
    Das sah Aurora ein. »Nach den letzten Stunden halte ich alles für möglich. Trotzdem, wir können ja vorsichtig sein. Oder hast du eine bessere Idee?«
    Hatte Emily nicht. »Wenn wir dort niemanden vorfinden, dann können wir immer noch ins Britische Museum zu Master Micklewhite.«
    Dinsdale war der gleichen Meinung.
    »Dann los!«
    So machten sich die Kinder auf den Weg.
    »Es ist unheimlich hier.«
    Emily hatte dem nichts hinzuzufügen.
    Der Regent’s Park war nur spärlich beleuchtet, und Emily hoffte, dass ihnen nicht irgendwelche Ganoven auflauern würden. Der Schnee hatte sich wie ein weißer Teppich über den Park gelegt und man konnte kaum die Wege erkennen. Fußspuren waren keine zu entdecken, was die Mädchen zumindest in der Hoffnung bestärkte, dass außer ihnen beiden niemand hier im Park herumlief. Die sonst so dichten Bäume waren karge Skelette, die ihre zackigen Schatten warfen, als wollten sie nach den Kindern greifen. Die schneebedeckte Kuppel der Moschee schaute aus der Ferne über die Baumwipfel, und der Regent’s Canal war größtenteils mit einer dicken Eisschicht und feinem Schnee bedeckt.
    Auf den Wipfeln der Bäume hockten vereinzelt große Raben, die neugierig ihre Köpfe reckten, als die nächtlichen Wanderer sie passierten.
    »Was glaubst du«, flüsterte Aurora, »hat das etwas zu bedeuten?«
    Die Raben sahen in der Tat ein wenig bedrohlich aus, und Emily entsann sich des Gedichts von Poe.
    Sein Dämonenauge funkelt und sein Schattenriss verdunkelt das Gemach, schwillt immer mächt’ger und wird immer grabesnächt’ger; und aus diesem schweren Schatten hebt sich meine Seele nimmer, nimmer, nimmermehr
.
    Mrs. Philbrick und ihre düsteren Geschichten.
    Wie seltsam ist es doch, dachte sich Emily, dass man gerade in solchen Momenten an diese schaurigen Geschichten erinnert

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