Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas
in den Tower von London führen sollte. Hinter sich hörte Emily ein lauter werdendes, schmatzendes Geräusch. Sie sah, wie sich aus der Fäulnis eine Hand bildete, wie Knochen entstanden und sich Sehnen darüber spannten, wie Haut und Krallen Form annahmen und sich schließlich eine fertige Hand zur Tunneldecke streckte.
»Emmy!«
Aurora stand neben ihr und riss sie aus der Lethargie.
An der großen Hand bildete sich ein Gelenk, das sich zu einem spindeldürren Arm auswuchs.
»Sie wird wiedergeboren«, rief ihnen Lucia del Fuego warnend zu. »Sie müssen sich beeilen.«
Nach einem letzten angeekelten Blick auf die einstige Göttin, die aus den verfaulten Kadavern der Krebse wieder auferstand, folgte Emily ihrer Freundin in die Dunkelheit des Tunnels.
Kapitel 11
Master Lycidas
Eigentlich hatte Emily damit gerechnet, dass es von nun an bergauf gehen würde. Ein Trugschluss, wie sich schnell herausstellte.
Nachdem sie die aus den Kadavern des Flussgetiers wiederauferstandene Spindelhexe hinter sich gelassen hatten, begann der Tunnel leicht abzufallen, und schließlich endete er abrupt vor einer Wand aus massivem Gestein. Zu ihrer Überraschung hatte Emily festgestellt, dass sie seltener in Pfützen traten und auch die Rinnsale brackigen Wassers auf den Felswänden immer dürftiger wurden, je tiefer sie in den Tunnel vordrangen. Was nur bedeuten konnte, dass sie sich von der Themse fortbewegten.
Was Emily wiederum verwirrte, da der Tower von London doch direkt am Fluss lag.
»Dort hinunter!«, drängelte Lucia del Fuego.
Wies auf ein kreisrundes Loch im Boden; dort, wo der Tunnel endete.
Die beiden Mädchen traten vor und lugten vorsichtig in die Tiefe. Das Loch war, wie sich schnell herausstellte, der Eingang zu einem engen Schacht, der kerzengerade nach unten führte. Die rostige Leiter, die mit schweren Bolzen am Felsgestein befestigt war, verschwand in rabenschwarzer Nacht.
»Müssen wir wirklich dort hinunter?« Emily mochte die Dunkelheit nicht.
Die Jägerin nickte. »Einen anderen Weg gibt es nicht.«
Keines der Kinder in Rotherhithe hatte die Dunkelheit gemocht. Die Nachtschwärze in dem tiefen Schacht erinnerte sie unwillkürlich an die verzweifelten Stunden, die sie wegen eines Verstoßes gegen die vom Reverend auferlegte Ordnung in der Dunkelkammer in den Kellergewölben des Waisenhauses hatte verbringen müssen. Der Stoffbär war damals ihr einziger Halt gewesen. Wenn es ihr gelungen war, den Bären in die Kammer hineinzuschmuggeln, dann waren die Einsamkeit, das Getier und die Geräusche zu ertragen gewesen. Ihre geheimsten Gedanken und Ängste hatte sie dem einäugigen Stofftier mitzuteilen vermocht.
Damals.
Kurioserweise fiel ihr erst jetzt auf, dass sie bereits seit Stunden – oder waren es gar Tage? – nicht mehr an ihren geliebten Stoffbären gedacht hatte. Vermutlich hatte sie ihn in der Wohnung in Marylebone vergessen, kurz bevor sie zu der Reise in die uralte Metropole aufgebrochen waren. Er musste sich also immer noch dort befinden, inmitten all der mittelalterlich anmutenden alchemistischen Gegenstände. Wie seltsam es doch ist, dachte Emily traurig, dass es so weit hat kommen müssen. Niemals hätte sie sich ein Leben ohne dieses lumpige, abgegriffene Stofftier vorstellen können, und jetzt war sie hier, folgte einer grauen Jägerin – was immer das Attribut grau auch bedeuten mochte – durch Tunnel und Schächte und Stollen und wusste gar nicht mehr richtig, wie ihr eigentlich geschah. War sie etwa erwachsen geworden? Konnte das einfach so passieren? So schnell und unverhofft? Verloren die magischen Gegenstände ihrer Kindheit an Bedeutung? Natürlich hatte sie immer gewusst, dass der Stoffbär aus Singapur kein lebendiges Wesen war, doch hatte ihm allein ihr Glauben daran, dass es so sein könnte, Leben eingehaucht. Ihre Vorstellungskraft und die Liebe, die sie diesem Stoffbären entgegengebracht hatte, das Vertrauen und die Zuneigung; dies alles hatte ihn letzten Endes doch zu einem atmenden und empfindungsfähigen Wesen gemacht, dessen einziges, dunkles Knopfauge ihr aufmunternd zugezwinkert hatte, wenn sie am Leben verzweifelt war. Verschwand diese Magie jetzt? Konnte es wirklich sein, dass sie nun erwachsen geworden war?
Ich bin erst zwölf Jahre alt, schrie die rebellische Stimme tief in ihr drinnen. In diesem Alter kann man doch noch nicht erwachsen sein. Man ist immer noch ein Kind mit kindlichen Gedanken und kindlichen, unvernünftigen Wünschen und dem Glauben,
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