Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas
dass es Gerechtigkeit gibt und den Bösen letzten Endes Böses widerfährt wie den Guten Gutes.
Sie warf einen Blick auf ihre Freundin. Aurora, die so geweint hatte, nachdem Madame Snowhitepink sie für ihre Dienste rekrutiert hatte. Nein, wenn man die Kindheit im Waisenhaus von Rotherhithe hatte verbringen müssen, dann war es durchaus möglich, dass man mit zwölf Jahren bereits erwachsen war. Man kannte die Schläge mit dem Rohrstock und den nagenden Hunger während der Essensstrafe. Man wusste von der quälenden Ungewissheit, wenn Madame Snowhitepink mit ihrem Wagen in die Gasse vor dem Waisenhaus einfuhr. Man ertrug die einsamen Nächte schweigsam, ging in Gedanken auf Reisen und stellte sich seine Eltern vor.
»Wir sind zu alt«, pflegte Aurora missmutig zu sagen.
In diesen Momenten hätte Emily ihr gerne widersprochen.
Doch wusste sie, dass sie die Wahrheit sprach.
Wenn zeugungsunfähige Erwachsene ins Waisenhaus kamen, was selten genug vorkam, dann entschieden diese sich meist für sehr junge Kinder. Nur die ganz Kleinen hatten es diesen Menschen angetan.
»Süße Babys, deren Füße nach ranziger Butter riechen und die glucksend lachen und Erwachsenenherzen im Nu zu verzaubern wissen«, hatte Emily ihrer Freundin erklärt. »Das wollen sie.« Manche Kinder sagten, dass, wenn man sich dies erst einmal eingestanden hatte, die Kindheit unwiderruflich zu Ende war.
»Niemand will Kinder, deren schmutzige Münder vor Unsicherheit nervös zucken, wenn sie lächeln. Niemand wählt ein Kind aus, das älter als zwei Jahre ist. Nicht, wenn man die Auswahl hat.«
Punktum.
Was blieb, war die Nase an die kalte Fensterscheibe zu drücken und dem Reverend dabei zuzusehen, wie er den Erwachsenen ein Baby mitgab, heuchlerisch lächelte, während er doch nur an die Ablösesumme dachte, und dem überglücklichen, nun nicht mehr kinderlosen Paar einen Herzenswunsch erfüllte. Es zerreißt ein Waisenkind, wenn es sieht, wie sich einem anderen Kind eine Zukunft jenseits des Waisenhauses eröffnet. Es ist keine Missgunst, nur ein Bedauern; vielleicht ist es auch Wut und Verzweiflung, weil man eigentlich dem davongehenden Kind dessen Glück gönnt und dennoch nicht anders kann, als das eigene Schicksal zu beklagen und sich selbst dafür zu hassen. Zu hassen, weil man zu alt ist, zu hässlich, zu missgestaltet, zu andersartig. Die Menschen wollen keine andersartigen Kinder.
»Niemand will eine einäugige Missgeburt.«
Sobald sie dies gesagt hatte, hatte Emily sich für ihr Selbstmitleid gehasst.
Wütend schüttelte sie diese Gedanken ab.
Sie führten zu nichts. Machten nur schwach.
Stattdessen konzentrierte sie sich darauf, die Sprossen der eisernen Leiter zu ertasten und nicht abzurutschen.
Dinsdale war als Erster in den Schacht hinabgetaucht und hatte ihn von unten her erhellt. Ihm war erst die Jägerin gefolgt, dann Aurora. Emily bildete die Nachhut. Kalte Luft schlug Emily ins Gesicht, wenn sie nach unten blickte, wo noch immer kein Boden zu erkennen war. Dabei waren sie doch bereits seit zehn Minuten beim Abstieg, und Emily hatte nicht die geringste Ahnung, wohin die Jägerin sie führte. Wenn sie nach oben schaute, dann war auch dort nichts als Dunkelheit.
Während der ersten Schritte in den Abgrund hatte man noch das wütende Fauchen der Spindelhexe vernommen, deren Körper wohl wieder vollständig hergestellt war. Doch war auch das Fauchen dieser seltsamen Kreatur nunmehr verebbt. Außer dem Heulen des Windes und den eigenen Bewegungen gab es keinerlei Geräusche.
»Alles in Ordnung, Emmy?«
Emily lächelte nach unten zwischen ihren Füßen hindurch. »Alles bestens.«
Das war es, was sie während der letzten Jahre immer getan hatten. Sie hatten einander Mut gemacht.
Emily spürte ein Stechen in den Beinen.
Müde hielt sie einen Moment inne und atmete tief durch.
Die Luft, die von unten emporstieg, war noch kälter geworden während der letzten Minuten des Abstiegs. Irgendwie hatte sie angenommen, dass es, je tiefer man in die Erde vordrang, umso wärmer werden musste. Sie sah, dass ihr Atem kleine Wölkchen in der Luft bildete. Wie konnte das sein?
Unter sich hörte sie, wie Lucia del Fuegos Stiefel auf Stein klapperten.
Emily sah schnell hinunter, und ihre Vermutung wurde bestätigt.
Sie waren am Ende des Schachtes angelangt.
»Ist das eisig hier unten«, entfuhr es Aurora, die in ihre Hände hauchte.
Emily kletterte das letzte Stück der rostigen Leiter hinunter und war froh, wieder festen Boden
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