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Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas

Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas

Titel: Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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mit den langen Klauen von Wand zu Wand reichten. Das Gesicht des Wesens wies entfernt weibliche Züge auf; die durch und durch weißen Augen und die langen Reißzähne in dem Mund, der von Ohr zu Ohr zu gehen schien, das strähnige, lange Haar, das an Seetang in brackigem Wasser erinnerte, und die schlangenhaft gespaltene Zunge, ständig unruhig zischelnd, straften diesen ersten Eindruck, es könne sich einmal um eine Frau gehandelt haben, eine Lüge.
    Mit wütend wildem Blick registrierte Nehallania die Ankömmlinge. Gierig zuckte die dürre Gestalt und sprang unversehens auf die Jägerin zu. Es war eine Bewegung, die an ein Insekt erinnerte. Krallenhände versuchten erfolglos, nach den Wanderern zu greifen.
    Panisch wichen Emily und Aurora ein Stück nach hinten in den Tunnel zurück.
    Dinsdale schien vor Schreck zu erlöschen. Das Irrlicht hielt sich dicht unterhalb der Decke und in sicherem Abstand zu der Göttin, die den Weg vollständig blockierte. Den Weg, der, wie Emily vermutete, zum Tower von London führte.
    »Kscht!«, machte Lucia del Fuego.
    Hielt die Kinder fest.
    Dann bemerkten es auch die beiden Mädchen.
    Nehallania war an dem Felsgestein festgekettet, und es war ihr gar nicht möglich, den Körper auch nur einen Zoll weiter zu bewegen. Allenfalls konnte sie versuchen, mit den langen Armen nach ihren Opfern zu greifen.
    »Das Flussvolk nennt sie die Spindelhexe«, flüsterte Lucia del Fuego, die angekettete Gestalt nicht aus den Augen lassend.
    Wütend funkelte die einstige Göttin die Kinder an.
    Ihre Sprache war nurmehr ein Zischen, das sich gurgelnd mit dem von der Decke und den Wänden fließenden Wasser vermischte. Überall tropfte es, quoll es, sprudelte es. Der Tower von London liegt am Fluss, dachte sich Emily. Also muss sich die Themse in unmittelbarer Nähe befinden. Die Nässe drang durch jede Pore des massiven Felsgesteins.
    »Da!«
    Aurora ergriff ihrer Freundin Arm.
    Etwas bewegte sich in den Schatten. Emily schauderte.
    Große Wesen mit krummen, länglichen Körpern, aus denen jeweils sechs Beine und lange Scheren ragten, reckten ihre Stielaugen aus der Dunkelheit. Das Geräusch vieler Beine, die flink über den nassen Stein kratzten, erfüllte mit einem Mal den Tunnel.
    »Flusskrebse«, flüsterte Emily.
    Mrs. Philbrick hatte die Viecher manchmal für den Reverend zubereiten müssen und die lebendigen Leiber in einen Topf voll kochenden Wassers geworfen, wo sie zuckend rot geworden waren.
    Jetzt waren sie überall.
    Krochen aus den schmalen Felsspalten.
    Ergossen sich aus den langen Schatten.
    Entstiegen den dunklen Pfützen.
    Und Nehallania schrie.
    Nein, sie kreischte.
    Sie weiß genau, was mit ihr geschehen wird, dachte Emily voller Grauen.
    Denn die Hölle ist die Wiederholung.
    Die Flusskrebse näherten sich der Göttin, deren Klauen einige von ihnen zerreißen konnten. Doch waren es ihrer zu viele, und Nehallania wurde unter einer Flut roter und grauer und schwarzer zackiger Leiber begraben. Die Panzer der Tiere schabten lautstark aneinander. Scheren schnappten und Sehnen rissen. Blut spritzte. Knochen splitterten und Knorpel knackten.
    Nehallania kreischte.
    Niemals zuvor hatte Emily derartige Schreie vernommen.
    Der Körper der Göttin war bedeckt mit zuckenden, tötenden Leibern im Blutrausch. Alles war, wie es immer war, wie es immer sein würde. Denn die Hölle, das sah Emily nun, ist die Wiederholung. Langsam, ganz langsam, sank der Berg umherwuselnder Leiber in sich zusammen. Keine halbe Stunde später hatten die Tiere den Körper Nehallanias zur Gänze vertilgt und nicht einen einzigen Knochen übrig gelassen.
    Dann setzte das große Sterben ein.
    Krämpfe schüttelten die Flusskrebse, deren Kieferzangen noch im Todeskampf das verdorbene Fleisch der Göttin zermalmten. Rote, graue und schwarze Leiber krümmten sich in brennender Qual. Vielgliedrige Beine zuckten und zappelten.
    Dann kehrte Stille ein.
    »Gleich wird die Passage frei werden«, flüsterte Lucia del Fuego. »Seien Sie also bereit.«
    Emily sah, wie die Krebse sich langsam zu zersetzen begannen.
    Ein fürchterlicher Gestank ging von den verrottenden Kadavern aus, die in unnatürlichem, beängstigendem Tempo der Verwesung anheim fielen. Bald schon bedeckte eine rußige, feuchte Masse die Erde.
    »Los jetzt!«, hörten die Mädchen die laute Befehlsstimme der Jägerin.
    Mit schnellen Schritten folgten sie Lucia del Fuego.
    Stapften durch die Überreste der Krebse und traten ein in den Tunnel, der sie hinauf

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