Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas
unter den Füßen zu haben. Auch sie rieb sich die frostigen Hände. Erstaunt ließ sie den Blick durch den Gang schweifen.
Eine feine Eisschicht bedeckte den Boden und weißer Raureif die dicken Balken, die die niedrige Decke des Ganges stützten. Eiskristalle funkelten, wenn Dinsdales Licht sich in ihnen brach.
Lucia del Fuego, die Handschuhe trug, hatte den Kragen ihres Mantels hochgeschlagen.
»Wo sind wir hier?«, wollte Emily wissen. »Und warum ist es so kalt?«
Erst jetzt bemerkte das Mädchen, dass sie nicht allein in dem Gang waren.
Lucia del Fuego blickte sich wachsam um.
Dann erst wandte sie sich den beiden Kindern zu. »Wissen Sie denn nicht, was Dante über den neunten Kreis der Hölle sagt?« Ohne eine Antwort abzuwarten, fuhr sie fort: »Die Hölle ist ein Eispalast.«
Emily erstarrte.
Sie suchte Beistand bei Aurora, die jedoch ebenso ratlos war wie sie selbst. Es waren Kinder ohne Augen, die sich überall in dem Gang tummelten. Emily hatte dies alles gesehen, als sie im Cheshire Cheese zur Nacht eingekehrt waren. Intuitiv wusste Emily nunmehr, was sie sich bisher nur zu ahnen erlaubt hatte, was nicht mehr als ein ungutes Gefühl gewesen war.
Die Kinder ohne Augen hatten einst in London gelebt.
Jetzt leisteten sie Frondienste. Im neunten Kreis der Hölle.
Eine in schwarzem Leder steckende Frauenhand legte sich sanft auf Emilys Schulter. Das Mädchen hob den Blick. Lucia del Fuego lächelte.
Nicht ahnend, was den beiden Mädchen im Schneegestöber der großen Stadt widerfahren war, hielten wir Rat in den beheizten, gemütlichen Räumen von Maurice Micklewhites Büro im Britischen Museum. Es waren zwei Dinge, die mir der Elf an diesem Morgen zeigte: zum einen ein Porträt, gemalt in Öl mit matten Farben, die Reproduktion eines Kupferstichs aus dem 17. Jahrhundert, die einen Mann um die vierzig zeigte, mit großen Augen und einer langen Nase und blondem Haar, das ihm lockig um die Schultern fiel; zum anderen die staubige, in rotes Leder eingebundene Ausgabe eines Buches, dessen Titel in goldenen Lettern prangte.
Das verlorene Paradies?
Mylady wirkte überrascht.
Maurice Micklewhite grinste siegesgewiss.
Förderte ein weiteres Dokument aus der Schreibtischschublade ans Tageslicht.
Es war das Faksimile einer alten Handschrift.
»
Lycidas
«, las ich laut.
Dann warf ich erneut einen Blick auf das Porträt.
»Er hat es geschrieben«, sagte Maurice.
»Du glaubst, dass
er
Lycidas ist?«
»Es ist so ein Gefühl.«
Ich sah ihn zweifelnd an.
Die dunklen Äuglein der Rättin blickten amüsiert.
Noch immer der alte Skeptiker
,
Mortimer?
Zu meiner Verteidigung gab ich zu bedenken: »Wir sprechen hier von John Milton.« Immerhin einem der bedeutsamsten Dichter und Denker der englischen Renaissance. Es war Miltons grüblerisches Gesicht, das mir da in Öl gemalt entgegenstarrte. Es war John Milton, der
Das verlorene Paradies
und
Das wiedergewonnene Paradies
geschrieben hatte.
Maurice Micklewhite lächelte geduldig wie jemand, der von Dingen wusste, die mir noch nicht bekannt waren und die ich nicht einmal zu ahnen bereit war. »John Milton schrieb im Jahre 1637 ein Gedicht mit dem Titel
Lycidas
. Es ist ein Trauergesang für einen verstorbenen Freund. Edward King, mit dem John Milton seit seiner Zeit an der Universität befreundet gewesen war, ertrank während einer Schiffsfahrt über die Irische See.«
»Aber was verleitet dich bloß zu der Annahme, dass ein seit vierhundert Jahren verstorbener englischer Dichter in diesem Augenblick im Tower von London residiert und sich Master Lycidas nennt?«
»Das Schriftbild«, sagte Maurice.
Deutete auf die Zeilen des Gedichts, geschrieben in der Handschrift Miltons.
»Ich bin nicht sicher, ob ich dir folgen kann.«
Mylady Hampstead spitzte die Ohren.
»Es war die Handschrift, die mir bekannt vorkam«, erklärte Maurice und deutete auf die verschnörkelten Buchstaben. »Ich hatte sie schon einmal gesehen. Doch in keinem der Werke Miltons, da war ich mir sicher. Also begann ich zu recherchieren.« Um seinen Worten das nötige Gewicht zu verleihen, hielt er einen Moment inne und fügte dann hinzu: »Und wurde fündig.«
»Lass dich nicht extra bitten!«
Ich hasste es, wenn er so geheimnisvoll tat.
Was er sagte, war nur ein Name: »John Dee!«
Oh, dieser Elf!
»Das ist nicht dein Ernst?«
Maurice nickte. Todernst. »Die Handschrift ist jene von John Dee.«
Mylady stellte sich verwundert auf die Hinterbeine.
John Dee war ein bekannter
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