Die uralte Metropole Bd. 2 - Lilith
es Dinsdale nicht gelingen, ein Feuer von diesem Ausmaß zu gebären.
»Lauft!« Mièville griff in sein Wams und zog etwas hervor, das verdächtig nach einer Stange Sprengstoff aussah. »Und macht Euch um mich keine Sorgen. Ich bin schon einmal im Abgrund gewesen und wieder lebend herausgekommen.« Er grinste aufmunternd. »Den Viechern werde ich schon einheizen.« Er entzündete ein Feuerzeug. »Zeit, diesen Ort zu verlassen«, betonte er.
Und Emily und Adam begannen zu laufen.
Immer dem flackernden Leuchten Dinsdales folgend, rannten sie in den Tunnel, der sich direkt hinter ihnen auftat, und Emily hoffte inständig, dass das Irrlicht sich in der
ténébreuse
ebenso gut auskannte wie in der uralten Metropole.
Dann erkannte sie Mièvilles Plan.
Der Tunnelstreicher hatte gar nicht vor, den Sprengstoff gegen die Rattlinge zu verwenden. Nein, er verfolgte einen gänzlich anderen Plan. Als Emily und Adam mit ihren Begleitern im Tunnel verschwunden waren, da hörten sie eine Explosion, deren Druckwelle sie allesamt zu Boden warf.
»Er hat den Eingang zum Tunnel gesprengt«, keuchte Adam.
Emily rappelte sich auf.
Blickte zurück.
Eine Wolke kam wie dichter Nebel auf sie zu.
Sie schluckte.
Hustete.
Spuckte Staub.
Mièville war demnach noch immer in der Höhle. Bei den Rattlingen und dem Ding, das aus dem Abgrund emporgestiegen war. Am Rande des Friedhofs, dessen Früchte die Tentakelmünder verspeisten.
Er hatte den Rattlingen jegliche Möglichkeit genommen, sie zu verfolgen, und sich selbst dafür geopfert.
Tränen traten in Emilys Augen.
Sie wollte nicht weinen, und doch tat sie es.
Da war Dinsdale, der verhalten leuchtete.
Lady Mina, die am Boden saß und ängstlich in die Staubwolke spähte.
Und Adam, der den Arm um sie legte.
Zögerlich.
Unbeholfen.
»Emily«, sagte er.
Nur ihren Namen.
So beruhigend.
Nichts sonst.
Sie sah ihm in die Augen, und dann klammerte sie sich an ihn.
»Emily«, flüsterte er erneut.
Was alles sagte und mehr war, als sie sich erhofft hatte.
Kapitel 10
Sonnenträumerische
Geträumt hatte sie.
So lange.
Wie lange?
Konnte ihr keiner sagen.
Regen war auf das Gesicht des Babys, das sie einst gewesen war, hernieder gefallen. Das Prasseln der Tropfen auf der Plastikfolie, in die man sie eingewickelt hatte, war laut gewesen. Eine plätschernde und trommelnde Melodie, die dem Herbst in London huldigte. Die verschworen mit den Winden wisperte, die ihrerseits mit langen Fingern die Dächer und Straßenschilder packten und die unwirtliche Stadt der Schornsteine in einem Strudel bunten Laubs ertrinken ließen.
Davon hatte sie geträumt.
Vom Regen und dem roten Briefkasten, der in ihrer Erinnerung riesig gewesen war wie eine ägyptische Stele. Autos hatte sie gehört, doch war ihr damals noch gar nicht bewusst gewesen, was Autos waren. Die knatternden Geräusche hatten ihr Angst gemacht.
Damals.
Sie war noch ein Baby.
Das schrie.
Weil es Angst hatte.
Eine junge Frau hatte sie getragen, eingewickelt in Tücher, und in Auroras lückenhafter Erinnerung war die Welt einst voller Wärme und gleißendem Sonnenlicht gewesen. Die Farben selbst waren wie die Sonne gewesen, und irgendwo hatten laut Kamele geblökt. Sie konnte mit einem Mal das Meer schmecken. Blau und warm und so nah, dass der Tratsch der Arbeiter auf den Lastkähnen an ihre Ohren zu dringen vermochte.
Sie spürte die Wellen.
Wellen?
Da war ein Schiff gewesen.
Emily.
War über die Wellen zu ihr gekommen.
Ihre Freundin.
Emily.
War hier.
Wo immer »hier« auch sein mochte.
Aurora wusste nicht, wo sie war.
Sie war in einem kargen Raum, ja.
Sie bewegte die Hände mit schnellen, ruckartigen Bewegungen und zerrte an den Fesseln, bis ihre Haut aufgescheuert wurde. Bis der Schmerz zu brennen begann.
Denn der Schmerz, das hatte sie herausgefunden, brachte ihr das Bewusstsein zurück. Wenn sie Schmerzen verspürte, dann konnte sie klar denken. Dann ließ die Wirkung dessen, was durch die Kanülen in ihren Körper troff, für wenige Augenblicke nach.
Emily.
Ja.
Sie hatte sie im Traum berührt.
In Gedanken hatte Aurora gelächelt.
Ein Lächeln.
Das jetzt schwand.
»Es geht Ihnen besser«, hörte sie die ruhige Stimme des Arztes, der neben dem Bett stand und ihr den Puls fühlte. »Miss Mia Manderley«, betonte er den Namen, der Auroras Name sein sollte, was zu glauben sie sich jedoch hartnäckig weigerte.
Denn wenn sie Mia Manderley war, dann …
Dann, was?
Dann …
… würde gar nichts mehr
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