Die uralte Metropole Bd. 2 - Lilith

erkennen ließen, so nennen mochte, kroch unaufhörlich auf jene Stelle zu, an der sich die Gräber befanden, an denen die Wanderer soeben noch gestanden hatten. Die Blumen ließen ein unheimliches Wehklagen vernehmen. Wie dahingeflüsteter Gesang, der in der Seele schmerzte. Laute, die so vor Leid und Elend troffen, dass sie schon fast sirupgleich in den Boden sickerten.
    Kleinere Geschöpfe entschlüpften dem Abgrund, krabbelten flink an dem Tentakel empor, und Emily erkannte die Wesen, denen sie bereits damals in London begegnet war.
    Rattlinge!
    Lady Mina klammerte sich an Emilys Schulter fest. Die Rättin zitterte vor Angst, denn sie hatte von den reptilartigen Geschöpfen gehört, aber niemals eines mit ihren eigenen Augen gesehen. Allein die Geschichten hatten sie schon geängstigt. Alle jungen Ratten hatten davon gehört. Von rattenähnlichen Kreaturen mit nässender Haut, toten Augen und vor Gift triefenden Lefzen.
    »Kann das möglich sein?«
    Mièville wusste, was sie meinte.
    Konnte es sein, dass unter Paris ein ähnliches Geschöpf lebte wie der Nyx?
    Paris und London.
    Sagte man nicht, die Städte seien Schwestern?
    »Was sollen wir tun?«, fragte Emily.
    »Wir ziehen uns zurück«, schlug Mièville vor und deutete auf einen Tunnel, der in die Höhle mündete.
    Die Rattlinge sprangen über die Münder des Fangarms.
    Sie liefen zu den Blumen und schienen in einer zischenden Sprache mit ihnen zu kommunizieren. Der Tentakel erreichte die Blumenfelder. Die Grabsteine gaben dem Gewicht des Fangarms nach und knickten ein. Die vielen Münder schnappten nach den Blumen, die sich bereitwillig in ihre Richtung reckten und, wie es aussah, gefressen werden wollten.
    Gierig rupften die Tentakelmünder die Blumen samt Wurzeln aus dem Boden und zermalmten sie mit den stumpfen zahnähnlichen Gebilden, die schief wie die Grabsteine aus dem stinkenden Fleisch herausragten. Dickflüssiger Saft troff aus den Stängeln und Blüten, und ledrige Zungen leckten begierig an der klebrigen Flüssigkeit.
    »Die Blumenfelder«, murmelte Mièville, »werden abgeerntet.«
    Was immer das bedeuten mochte.
    Emily verspürte keinerlei Interesse, noch länger an diesem Ort zu verweilen. Adam stand neben ihr und hatte ihre Hand ergriffen. Emily konnte sich nicht einmal daran erinnern, wann genau er das getan hatte, aber es tat gut, ihn so bei sich zu haben.
    Dinsdale schwebte neben ihrem Kopf.
    Lady Mina indes, die wusste, was mit ihrer Mutter geschehen war, konnte den Blick nicht von den Rattlingen abwenden.
    Jenen widerwärtigen Geschöpfen, die plötzlich Witterung aufnahmen.
    Köpfe drehten sich.
    Hälse wurden gereckt.
    Unzählige tote Augenpaare richteten ihre Aufmerksamkeit auf die Eindringlinge, die in die
ténébreuse
hinabzusteigen gewagt hatten. Denn die
ténébreuse
, das ahnte Emily, war das Reich dieser Wesen. Der Ort, an dem Friedhöfe angelegt wurden und sich Abgründe öffneten, um die furchtbaren Blumen, die dort wuchsen, zu ernten.
    Sie fragte sich, was Professor Maspero mit all dem zu tun hatte und welche Aufgabe die Baudelaire-Bruderschaft erfüllte, und bangen Herzens dachte sie an Miss Monflathers. Es gab keine Zufälle, und wenn das, dessen Zeuge sie gerade wurde, mit den Ereignissen zu tun hatte, derentwegen sie hier war, dann bedeutete das …
    Emily hatte keine Zeit mehr, ihren Gedanken nachzuhängen.
    Die Rattlinge zischten.
    Emily kannte dieses Geräusch.
    Und während die Tentakelmünder fortfuhren, die Blumen des Bösen zu verspeisen, näherten sich die Rattlinge in Scharen. Emily sah, dass es hier und da noch Kakerlaken gab, die über den Boden huschten und von den flinken Rattlingen gepackt und gefressen wurden. Die Kakerlakenkörper knackten laut, wenn sich die Kiefer der Rattlinge um die Chitinpanzer schlossen und ledrige Zungen die hektisch zappelnden Kakerlakenbeine im Maul verschwinden ließen.
    Deswegen also waren die Kakerlakenschwärme geflohen.
    Sie kannten dieses Spiel.
    Wussten um die Rattlinge.
    Den Abgrund.
    »Miss Laing!«
    Emily sah ins besorgte Gesicht des Tunnelstreichers.
    »Ich gebe Euch in Dinsdales Obhut. Er kennt den Weg zum
cinéma blanc
.« Er wirkte entschlossen. »Ich halte Euch den Rücken frei.«
    Die Rattlinge kamen näher.
    Dinsdale flog auf sie zu.
    Leuchtete grell und heiß auf.
    Die erste Angriffswelle von Rattlingen ging kreischend in Flammen auf.
    Dann kehrte Dinsdale zurück. Emily wusste, dass Irrlicher nicht über unbegrenzte Kräfte verfügten. Ein zweites Mal würde