Die uralte Metropole Bd. 2 - Lilith
Ufer der Themse zum anderen gereicht hatte und die jetzt die tiefsten und gefahrvollsten Stellen des Moors überspannte, schien unter dem Gewicht der Häuser, die auf ihr in die Höhe geschossen waren und beinahe die Höhlendecke berührten, zu ächzen. Ein wuchtiger Bau war es, bestehend aus massigen Steinquadern, mit weit gestreckten Bögen, deren Pfeiler an der Oberfläche des Morasts durch hölzerne Pontonkonstruktionen gestützt wurden. Das mittlere Teilstück der Brücke, das man einst hatte hochziehen können, um größeren Schiffen und Lastkähnen die Durchfahrt zu ermöglichen, war nun verschwunden. An seiner statt prangte dort das größte und bedrohlichste Gemäuer von allen.
»Moorgate Asylum.«
Ein Haus der Erker und Winkel, der vergitterten Fenster und spitzen Türme, dessen hohe Mauern von wucherndem Stacheldraht gekrönt wurden. Wasser tropfte von der Höhlendecke herab, und schäbiges Moos bedeckte die Dächer des Hauses wie Zahnbelag.
»Was sind das für Geräusche?«, fragte Aurora, die von ferne ein Jammern und Wehklagen vernahm, das von den Fallwinden aus den U-Bahn-Schächten von hoch oben über das Moor geblasen wurde.
»Schreie«, war alles, was Emily darauf erwiderte.
Unbeirrt näherten sich die Mädchen der mächtigen Brückenkonstruktion, die umso riesiger erschien, je tiefer man sich in ihren Schatten begab. Ein altes Zollhaus bildete den Eingang, und dort angelangt, verstand Aurora, weshalb die Bewohner Moorgates diesem Ort den Namen gegeben hatten, den er nun trug: der Mund des Wahnsinns.
Ein steinernes Gesicht blickte auf die Mädchen herab.
Gemeißelt in dunklen Basaltstein, bildete es die Front des ehemaligen Zollhauses.
Mit Augen, die wie irre verdreht waren.
Einem Mund, aus dem eine fette Zunge hing, die mit Schnecken übersät war.
Falten, die das Antlitz in eine Fratze verwandelten.
Haaren, die zerzaust vom Kopf abstanden und deren Ausläufer bis zu den roten Ziegeln des Daches reichten.
»Die Ladys haben einen Termin?«, fragte der nahezu greise Wärter, dessen Geschlecht wirklich schwer auszumachen war und der in einer Bretterbude neben dem Tor auf einem Hocker saß und in einer Ausgabe der Times aus den 70er-Jahren blätterte.
»Bei Dr. Dariusz.«
Das schien dem androgynen Wesen in dem dunklen Anzug mit der Blümchenkrawatte zu genügen.
»Ihr kennt den Weg«, säuselte es.
»Danke.«
Emily und Aurora betrachteten für einen Augenblick das große Gesicht, das der Eingang zu Moorgate Asylum war.
Dahinter öffnete sich ein Schlund aus Häusern in der Dämmerung. Früher hatte man an dieser Stelle die aufgespießten Köpfe von Verrätern und Verbrechern der Sensationsgier des Pöbels preisgegeben. Damals, als die London Bridge sich noch unter freiem Himmel befunden hatte. Heute hing ein einfaches Schild mit dem Schriftzug des Sanatoriums an dieser Stelle.
Dann durchschritten die Mädchen den Mund des Wahnsinns.
Kapitel 11
Dr. Dariusz
Er ist der beste Psychiater in London. Eine Koryphäe auf dem Gebiet der Persönlichkeitsstörungen. Der Vertreter mesopotamischer Schocktherapien. »Elektrizität«, hatte sogar Maurice Micklewhite einmal einen seiner Artikel zitiert, »ist der Pfad ins Gehirn eines Menschen.« Die skurril anmutenden Gerätschaften, mittels deren er diesen Pfad beschritt, hatte Emily während ihrer vorherigen Besuche besichtigen können. Überall in Moorgate Asylum traf man sie an. Die kläglichen Schreie der Patienten, in denen man die Elektrizität zischen hören konnte, wenn man genau lauschte, zeugten vom regen Einsatz der neuen Technologien. »Der menschliche Verstand ist das unentdeckte Land unserer Zeit«, hatte Dr. Dariusz in einer Rede vor dem Senat behauptet, in welcher er hatte Stellung beziehen müssen zu dem Vorwurf des Missbrauchs Schutzbefohlener. Doch war die Anklage nicht schnell fallen gelassen worden, nachdem der arme Mensch, dessen Angehörige ihm den Vorwurf gemacht hatten, endlich wieder zu klarem Denken fähig gewesen war? Geheilt hatte er ihn, und Emily hatte damals die Berichte über den Vorfall in den Zeitungen gelesen.
Er war berühmt.
Berüchtigt.
»Ich bin«, begrüßte er die Mädchen lächelnd, »Dr. Dariusz.«
Er sah nicht aus, wie man sich einen Mann, der in einer Einrichtung wie Moorgate Asylum arbeitete, vorstellen mochte. Ein langer hochgeschlossener weißer Kittel, der so steril war wie das Lächeln, das den schmalen Mund umgab. Finger, die ein penibel gestutztes Bärtchen kraulten. Eine runde spiegelnde
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