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Die uralte Metropole Bd. 2 - Lilith

Die uralte Metropole Bd. 2 - Lilith

Titel: Die uralte Metropole Bd. 2 - Lilith Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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in die U-Bahn hinabgestiegen war, sollte Schnee liegen.
    Der starke Regen, der London nun bereits seit Wochen heimsuchte, bedrückte ihr Gemüt und das Auroras gleichermaßen. Die Nässe war allgegenwärtig. Schöne Gedanken wollten einfach keine mehr aufkommen. Alles wurde von den Fluten, die sich aus der grauen Wolkendecke ergossen, die London wie ein Leichentuch abdeckte, hinweggeschwemmt.
    Die Welt war grau geworden.
    Düster.
    Voll gedämpfter Töne.
    Nicht einmal die Engel sangen mehr am Oxford Circus.
    Emily seufzte.
    Sie war froh, Aurora neben sich zu wissen.
    »Glaubst du, Bruder Nubbles und Bruder Nook haben etwas mit der Entführung zu tun?«, fragte Aurora plötzlich.
    »Ich weiß es nicht.«
    Doch waren Bruder Nubbles und Bruder Nook nicht immer genau dort gewesen, wo sie hatten sein wollen?
    »Die beiden sind schon damals Entführer gewesen«, gab Aurora zu bedenken, »weshalb sollten sie heute nicht wieder ihrem alten Geschäft nachgehen?«
    Jeder tut das, was er am besten kann.
    »Angeblich haben sie einen neuen Herrn.«
    Doch wer mochte dies sein?
    Master Lycidas weilte nicht mehr in London.
    Und Mylady Lilith war zu Asche zerfallen.
    Der Lordkanzler von Kensington hielt sich seit Jahren bedeckt.
    »Vielleicht dienen die beiden Carathis.«
    »Oder al-Vathek.«
    »Aber warum sollte al-Vathek meine Mutter entführen lassen?«
    Darauf hatte Aurora keine Antwort parat.
    »Warum«, murmelte Emily, »sollte Carathis sich ausgerechnet für uns beide interessieren?«
    Konnte es sein, dass die Ereignisse, die sich vor Jahren zugetragen hatten in der Stadt der Schornsteine und in deren Mittelpunkt die beiden Waisenmädchen gestanden hatten, nunmehr eine Wiederholung erlebten? Dass Carathis, al-Vathek und die Vinshati nur in London weilten, weil der Verlauf der Dinge damals so gewesen war und nicht anders?
    Was würde das bedeuten?
    Erneut musste Emily an ihre Mutter denken.
    An den Wintertag, als sie ihr zum ersten Mal gegenübergestanden hatte. In der Dachkammer Manderley Manors, wo die alte Mylady Eleonore Manderley, Emilys Großmutter, ihre Tochter wie ein wildes Tier gehalten hatte, angekettet an die karge Wand, in einem Raum, dessen Boden übersät war mit zerrissenen Zeitungen, aus denen sich Mia eine Art Nest gebaut hatte.
    Konnte dieses Verhalten etwas mit den Vinshati zu tun haben?
    Emily erinnerte sich an die Szene, die Rudyard Kipling beschrieben hatte. Als Peachey Carnehan und Daniel Dravot hoch oben in den Bergen Kafiristans auf die Vinshati getroffen waren, die sich in dem verlassenen Bergdorf versteckt gehalten hatten.
    Allein der Gedanke daran ließ sie erschaudern.
    Sie dachte an die Vinshati, die den Engel angefallen hatten. An die Schemen von Waterstone Junction. An Adelphi Arches und die verwaisten Gräber von Achet-Aton.
    Nein, dies war nicht die Krankheit, an der Mia Manderley litt.
    Und doch …
    Konnte Emily sich da so sicher sein?
    »Woran denkst du?«, fragte Aurora.
    Sie hatten jetzt den Bahnsteig mit der schmalen rostigen Tür erreicht, die zu einem der Versorgungstunnel führte. Jemand hatte mit bunter Graffitifarbe das RAF-Emblem darauf gesprüht.
    »An alles«, gab Emily zur Antwort.
    Denn das war es, woran sie dachte.
    Ungeordnet und wirr stürmten all diese Gedanken auf sie ein.
    »Lass uns gehen«, schlug sie vor und klopfte gegen die Eisentür.
    Keiner der Wartenden in ihrer Nähe schenkte den beiden Mädchen Beachtung, als sie in den Versorgungstunnel, dessen Pforte sich metallisch knirschend geöffnet hatte, eintraten.
    Das, dachte Emily, ist London und betrat die uralte Metropole.
    »Sei’n Se gegrüßt.«
    Der Gatekeeper von Farrington, dessen Stimme so rostig war wie die Pforte, als deren Wächter er hier unten lebte, war ein alter, blinder Mann, der die abgenutzte Uniform eines Royal-Air-Force-Piloten trug, samt Fliegermütze und Brille, deren Gläser so schmutzig waren, dass der Mann, wäre er nicht erblinded gewesen, auch nichts hätte sehen können. Schnüffelnd nahm der Gatekeeper die nahenden Mädchen zur Kenntnis.
    »Wohin, kleine Ladys, soll’s ’n gehn?« Ein nahezu zahnloser Mund verzog sich zu einer Grimasse, die ein Lächeln sein sollte.
    »Nach Moorgate«, sagte Emily mit fester Stimme.
    Niemals durfte man hier unten unsicher wirken.
    Das hatte sie während der vergangenen Jahre gelernt.
    »Ah«, grummelte der alte Expilot, und sein Mundgeruch ließ beide Mädchen die Gesichter verziehen, was eingedenk der Blindheit des Gatekeepers nicht unhöflich war.

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