Die uralte Metropole Bd. 2 - Lilith
zerfallen.
Damals.
In der St.-Pauls-Kathedrale.
»Vieles hängt jetzt von Ihnen ab, Miss Laing.« Bruder Nubbles ließ da keine Zweifel.
Bruder Nook ebenso wenig: »Und deshalb werden Sie Lilith finden.«
»Für unseren Herrn.«
Bruder Nubbles und Bruder Nook standen mit bleichen Gesichtern still da.
»Wie lautet sein Name?«, wollte Aurora wissen, obwohl sie ihn erahnte.
Emily sah es ihr an.
Beide wussten sie, um wen es sich handelte.
Und trotzdem sprach Bruder Nook den Namen aus.
»Al-Vathek.«
Den Namen, der unzählige Rätsel in sich vereinte und zur Gewissheit werden ließ, was die Mädchen bisher nur geahnt hatten. Nämlich dass der Funken Wahrheit, der allen alten Geschichten innewohnt, hell entfacht worden war in der Stadt der Schornsteine und bereits zu einem lodernden Feuer anwuchs.
»Was wird Wittgenstein dazu sagen?«
Emily sah ihre Freundin von der Seite an und murmelte nur: »Frag bloß nicht.« Mit hochgeschlagenem Kragen folgte sie den auf das Pflaster gemalten gelben Linien, die durch das Labyrinth führten. »Eigentlich mag ich das Barbican nicht besonders.«
»Ich weiß, was du meinst«, entgegnete Aurora.
Beide Mädchen betrachteten den Ort, den zu betreten sie im Begriff waren. Vor einer Stunde hatten sie Moorgate verlassen und hatten sich auf den Weg zur U-Bahn-Station Barbican gemacht.
Früher hatte der Reverend des Waisenhauses sie oft zum Anbetteln der Museumsbesucher und Kunstliebhaber an diesen Ort geschickt.
Das Barbican Centre.
Zwei Theater, ein Konzertsaal, mehrere Kinos, moderne Kunstgalerien mit orangefarbenen Teppichböden, eine Bibliothek, die Guildhall School of Music, das Museum of London. Dies alles befindet sich in dem grauen Dickicht aus sich windenden Treppen und schräg abknickenden Gängen. Bebrillte Intellektuelle und halbtote Junkies treiben sich gleichermaßen in dieser Gegend herum.
Wie ein hässlicher künstlicher Zahn erhebt sich das Barbican Centre aus dem Nebel, der die Geschäftshäuser von Smithfield wie eine Geliebte umarmt, die allzeit fremdzugehen bereit ist. Versteckte Zugänge und erhöhte Trottoirs trennen die Fußgänger von der hektischen Betriebsamkeit der City. Es gibt einen künstlichen See, Springbrunnen und sogar Rasenflächen in diesem Wehrturm der Moderne, der letzten Endes doch nicht mehr sein kann, als er ist. Aufgetürmte Zementmassen über den Überresten der alten Stadtmauer. Karg, leblos und grau.
»Al-Vathek«, rief sich Emily die Worte Bruder Nooks ins Gedächtnis zurück, »wird Ihrer Mutter keinen Schaden zufügen, wenn Sie kooperieren. Das Wohl der uralten Metropole, seien Sie dessen versichert, liegt dem Kalifen sehr am Herzen.«
»Was hat das Ganze mit Lilith zu tun?«
Die beiden Black Friars hatten nur müde gelächelt.
»Das, Miss Laing, werden Sie schon noch herauszufinden in der Lage sein.«
»Oh ja, das werden Sie.«
»Sie haben einen klugen Mentor.«
»Wie auch Miss Fitzrovia.«
»Und Sie beide.«
»Sind doch schlau.«
»So schlau.«
»Ja, ja.«
»Nicht wahr?«
Insbesondere ihrer Freundin hatten die beiden Black Friars dabei einen Blick zugeworfen, der Emily gar nicht gefallen hatte.
Wissend.
Lauernd.
Bedrohlich.
Als wüssten sie von Dingen, an die sich Aurora nicht mehr zu erinnern vermochte.
»Al-Vathek«, hatte Bruder Nook erklärt, »muss ein Bündnis mit Lilith eingehen. Einen Pakt, von dem das Wohl Londons, wenn nicht gar noch mehr, abhängt.« Er hatte den Kopf leicht gesenkt, was seinem Gesicht etwas Nachdenkliches verliehen hatte. »Doch weilt Lilith, wie wir alle wissen, seit geraumer Zeit nicht mehr unter uns.« Beide Black Friars hatten die Hände gefaltet. »Und das Häufchen Asche, das von ihr geblieben ist, hat unser alter Meister der Hölle anvertraut.«
»Genau da liegt das Problem«, hatte Bruder Nubbles zu bedenken gegeben. »Die Hölle, das wissen Sie sicher, Miss Laing, ist ein sehr wankelmütiger Ort. Ständig Veränderungen unterworfen. Und Sie, das lässt sich nicht abstreiten, haben ein gewisses Talent dafür, nun, sagen wir, Dinge zu finden.«
»Das ist alles?«, hatte Emily gefragt.
»Oh ja.«
»Alles.«
Die beiden Black Friars hatten sich verneigt. Zu beiläufig, als dass es wirklich höflich gewesen wäre.
»Denken Sie nach über das, was wir Ihnen gesagt haben.«
»Und treffen Sie die richtige Entscheidung.«
Dann hatten sie die Kapuzen übergezogen, und die Gesichter waren im Schatten verschwunden, und die glimmenden Augen waren zu Seen in der Dunkelheit
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