Die uralte Metropole Bd. 2 - Lilith
sie in einem Secondhandladen für Militärklamotten in Notting Hill erstanden hatte. Eine Unruhe hatte Besitz von ihnen ergriffen, deren sie nur Herr werden konnten, indem sie handelten.
Denn Dr. Dariusz höchstpersönlich hatte angerufen. Der Leiter von Moorgate Aylum.
Was in jeder Hinsicht merkwürdig war.
»Er glaubt, dass sie entführt wurde«, hatte Peggotty den Mädchen eröffnet und ihnen geschildert, dass die Pfleger Schreie gehört und dann eine Zelle vorgefunden hatten, die leer gewesen war, abgesehen von dem zerstörten dürftigen Inventar, das den Boden bedeckt hatte.
Also waren die Freundinnen direkt aufgebrochen.
Als sie sich nun durch das dichte Gedränge des Berufsverkehrs von den vor Nässe triefenden Menschenmassen auf eine der vielen Rolltreppen zuschieben ließen, musste Emily an ihre regelmäßigen Besuche bei ihrer Mutter denken.
Sie entsann sich des hölzernen Schemels, auf dem zu sitzen ihr für die Dauer der einen Stunde erlaubt gewesen war, während der sie jeweils durch den schmalen Schlitz in der metallenen Zellentür gelugt hatte. Niemals würde sie jene Momente aus ihrem Gedächtnis verdrängen können. Immerfort würden die Bilder von dem weiß gekachelten Raum sie verfolgen, in dem eine Frau, die nichts als ein Nachthemd trug, ihren ausgezehrten Körper im Takt einer stummen Musik wiegte, den Kopf zwischen den Knien, die Kopfhaut unter dem kurz geschorenen Haar an manchen Stellen von blutigem Schorf bedeckt.
Emily erinnerte sich der gutturalen Laute, die ihre Mutter immer dann ausstieß, wenn sie sich beobachtet fühlte. Des Gerassels der Ketten, wenn sie sich zu befreien versuchte. Der Handfesseln, die ihr die Gelenke aufscheuerten, wenn sie tobsüchtig daran zog. Einem Tier war Mia Manderley zuletzt ähnlicher gewesen als einem Menschen, und was sie zu dem, was sie momentan war, gemacht hatte, konnte Emily nurmehr vermuten.
»Warum tust du dir das an?«, hatte Aurora einmal gefragt.
»Sie ist meine Mutter«, war Emilys Antwort auf diese Frage gewesen.
Wenn Mia Manderley ruhig dagesessen und Melodien gesummt hatte, dann hatte sich Emily jedes Mal gefragt, wie sie wohl früher gewesen war. Wie das ungestüme junge Mädchen ausgesehen haben mochte, das sich in Richard Swiveller, den Musiker, verliebt hatte.
Wie viel von dieser jungen Frau, die einst hübsch und glücklich gewesen sein musste, steckte in ihr selbst, in Emily Laing? Wie viel von dem Kummer, den Mia einst erlitten hatte, würde ihre Tochter ertragen können, bevor die Verzweiflung sie übermannte?
»Bin ich meiner Mutter ähnlich?«
Das war die alles entscheidene Frage.
In der Dachkammer ihres Zuhauses, wenn Emily mit angewinkelten Beinen auf der Matratze saß und ihr Kopf auf den Knien ruhte oder wenn sie zu den Schattenspielen an der Decke hinaufschaute und den Stoffbären in ihren Armen hielt, dann flüsterte sie manchmal ihre Frage in die Dunkelheit, in der nur die Heizung leise Geräusche von sich gab. Die Frage, die sich ein jedes Waisenkind stellt. Die Frage, die auch Aurora nach den Träumen der vergangenen Nacht gestellt hatte.
Und auch jetzt, tief unter London, beschäftigte sie sich insgeheim mit dieser Frage. Und Aurora, das merkte man ihr an, tat es ihr gleich. Bis sie in Farrington aus der U-Bahn ausstiegen.
Farrington war ein schmutziger Ort.
Den Emily nicht mochte.
Zu viele Menschen drängelten hier unten durch die röhrenförmigen Gänge. Die Linien Hammersmith und Circle treffen hier auf die Bakerloo Line, und die Benutzer aller drei Linien vermischen sich mit den ThameslinkFahrgästen, und jeder verschafft sich Freiraum in dem Gedränge mittels Ellbogen, Aktenkoffer oder breiten Schultern. Die ganze Unbarmherzigkeit der Welt wird hier unten offenbar, wenn man sich erst in den Sog des Berufsverkehrs begeben hat.
Emily fühlte sich nicht wohl in dieser Gegend.
Es waren die vielen Menschen, die ihr die Luft zu nehmen schienen. Deren abfällige und neugierige Blicke sie auf ihrem Gesicht spürte. Auf dem Mondsteinauge, das hin und wieder hinter der Strähne ihres roten Haars hervorlugte und ihre Andersartigkeit den gewöhnlichen Menschen preisgab, die danach gierten, etwas Abartiges zu erblicken.
Die Tunnelröhre mit den Wänden aus glattem Beton, der in Bodennähe an vielen Stellen feucht war vom Urin der Obdachlosen, vollführte einen Knick und endete erneut vor einer langen Rolltreppe, die die Mädchen in die nächsttiefere Ebene brachte.
Weihnachten, hatte Emily gedacht, bevor sie
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