Die uralte Metropole Bd. 2 - Lilith
Sonnenbrille, in der sich ein eingeschüchterter Besucher allenfalls selbst zu erkennen vermochte. Langes Haar, das ihm feuerrot und zu einem Zopf gebunden bis über die Schultern fiel.
Er sprach langsam.
Bedächtig.
Mit der Stimme eines Verführers.
»Ah, Miss Laing und Miss Fitzrovia.« Nacheinander ergriff er beider Mädchen Hände.
Sachte.
Ganz charmant.
»Seien Sie willkommen in meinem bescheidenen Sanatorium.«
Während er sprach, schritt er in dem Büro mit den hohen Fenstern und den Spiegeln, die in allen Größen und Formen die weißen Wände anstelle von Bildern bedeckten, auf und ab. Unruhig, einem Tier im Käfig gleich. Und doch eine abwartende Ruhe ausstrahlend.
»Mylady Eleonore Manderley«, kam er augenblicklich zur Sache, »wurde natürlich gemäß unserer Richtlinien über den Vorfall informiert. Doch hat sich etwas ergeben, was mich Sie, Miss Laing, zuerst kontaktieren ließ.« Er lächelte bedeutungsschwanger. »Aber bitte, nehmen Sie doch Platz, meine Damen.« Er bot ihnen die beiden Stühle an, die neben der Behandlungscouch aus schwarzem Leder standen.
»Was ist mit meiner Mutter geschehen?«, fragte Emily und ließ sich auf einem der Stühle nieder. »Wer hat sie entführt?«
»Oh, gleich zwei Fragen auf einmal, Miss Laing.« Dr. Dariusz kraulte sein Kinnbärtchen. »Die erste Frage, junge Dame, werde ich mühelos beantworten können. Die zweite Frage jedoch … hm, tja.« Er setzte ein betroffenes Gesicht auf. »Schwierig, schwierig, in der Tat.« In jedem der dunklen Brillengläser spiegelte sich das Gesicht eines der Mädchen.
»Eine Krankheit der Augen«, erklärte Dr. Dariusz mit einem dahingehauchten fremdländischen Akzent, als er die neugierigen Blicke der Mädchen bemerkte. »Deshalb die Sonnenbrille.« Elegant ließ er sich auf die Couch niedersinken und lehnte sich dort mit übereinander geschlagenen Beinen zurück. Emily erblickte einen spitzen roten Lackschuh. Der rechte Fuß des Arztes steckte aber in einem klobigen Schuh aus schwarzem Leder. »Ein Gebrechen, dessen ich nicht Herr werden konnte.« Dr. Dariusz beugte sich nach vorn und klopfte sich mit dem Finger auf den schwarzen Schuh. »Ein Klumpfuß, wie man hier unten sagt. Nun ja, aber was sind schon körperliche Beeinträchtigungen?« Jetzt war es Aurora, die er ansah. Förmlich fixierte. »Ist es nicht die Seele, Miss Fitzrovia, die zählt? Das innerste Selbst?« Die schmalen Lippen schienen den Satz, den er aussprach, geradezu herbeizusehnen. »Sind nicht die Augen ein Spiegel der Seele?« Die dunkle Brille zog er elegant beiseite. Nahezu weiße Augen mit einer äußerst hellen blauen Iris kamen dahinter zum Vorschein. Raubtieraugen. »Und sind Spiegel dann nicht gleichsam der Seele Augen?«
Emily kannte Aurora gut genug, um ihre Angst zu erkennen. Allerdings konnte sie sich nicht erklären, weshalb ihre Freundin allein beim Anblick dieser Augen ein solcher Schauer durchfuhr.
»Als er von den Spiegeln sprach«, sollte Aurora später gestehen, »da kam er mir mit einem Mal so bekannt vor. Als sei ich ihm vorher schon einmal begegnet.«
Mehr jedoch konnte Aurora nicht dazu sagen.
Dr. Dariusz indes ließ sich, sofern er sich an Aurora erinnerte, nichts anmerken.
»Etwas erfahren wollen Sie über Ihrer Mutter Schicksal«, führte er seinen Monolog fort. »Dafür sind Sie den langen Weg nach Moorgate hinabgestiegen. Nicht wahr?«
»Was ist passiert?«
Er seufzte.
»Sie ist entführt worden.«
»Das sagten Sie bereits am Telefon.«
»Von wem entführt? Ich habe keine Ahnung.« Er machte eine wegwerfende Handbewegung. »Es gibt einen Zeugen, ja. Doch wer steckt hinter der Entführung? Da können wir wirklich nur mutmaßen. Nicht mehr. Doch sollte ich Ihnen schildern, was wir wissen, und nicht, was wir vermuten.« Er strich sich durch das Haar und schloss für einen Moment die Augen. »Einer der Pfleger, der am frühen Morgen die Trakte im Nordflügel kontrollierte, vernahm ein kratzendes Geräusch, das durch ein halb geöffnetes Fenster drang. Als er nach draußen schaute, sah er Schemen, die durch den Nebel, der morgens auf dem Moor liegt, schlichen.« Dr. Dariusz schien die Dramaturgie dieser Erzählung zu genießen. »Wirklich seltsame Wesen beschrieb er mir später. In die schmutzigen Felle von Wölfen und Hunden und Ratten gekleidete menschliche Kreaturen, die auf zwei Beinen liefen und dann auf allen vieren die Wände des Sanatoriums emporzuklettern vermochten. Ein ganzes Rudel soll es gewesen
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