Die uralte Metropole Bd. 2 - Lilith
vieles musste sie noch erlernen. In der Whitehall Schule von Miss Monflathers wurden die Lektionen, die ich ihr erteilte, vertieft und fortgesetzt, und wenngleich dem Mädchen viele der altehrwürdigen Vorschriften und antiquierten Wertvorstellungen, die dort vertreten wurden, nicht zusagten, so war dies doch die einzige Schule in London, die zu besuchen Emily in der Lage war. Da sie mir des Öfteren auf Exkursionen in die uralte Metropole folgte, hätte sie dem Unterricht an anderen Lehranstalten zu lange fernbleiben müssen. Deswegen und eingedenk der Tatsache, dass Schüler, die über außergewöhnliche Fähigkeiten verfügen, was bei Emily Laing zweifelsohne der Fall ist, die Whitehall Schule zwingend besuchen müssen, hatte sich uns damals keine andere Wahl geboten.
Die Konflikte, die in letzter Zeit immer häufiger und zudem immer offener zu Tage traten, waren dabei wohl unausweichlich gewesen.
»Wittgenstein hat mir schon damals erzählt, dass auch er sich seinerzeit geweigert hatte, den Weisungen des Senats nachzukommen.« Emily pflegte ihre Trotzhaltung der Schule gegenüber wie einen kostbaren Schatz. »Es ist einfach nicht richtig, was sie da von uns verlangen.«
»Was sie von
dir
verlangen«, hatte sie Aurora verbessert, die nicht an den speziellen Lektionen teilnehmen musste. Denn Aurora Fitzrovia verfügte, wie die meisten der anderen Schüler, über keine Fähigkeiten, die man als außergewöhnlich hätte bezeichnen können. Sie war nur ein normales Mädchen, das zwischen London und der uralten Metropole wandern durfte. Ein Mädchen, das keine Ahnung von seinen Wurzeln hatte. Das sich noch immer in den Nächten auszumalen versuchte, wer seine Eltern waren und warum man es einst fortgegeben hatte.
»Wittgenstein hat sich damals auch nicht angepasst.«
In dieser Hinsicht war ich zweifelsohne zu Emilys Vorbild geworden.
»Dafür hat er auch eine Menge Schwierigkeiten bekommen.«
»Aber er hat es überstanden, oder?«
Aurora hatte sich eine Bemerkung verkniffen.
»Manchmal«, war Emilys Meinung gewesen, »muss man eben für seine Überzeugungen eintreten.«
»Sei trotzdem vorsichtig.«
»Was soll schon passieren?«
»Sie können dich der Schule verweisen.«
»Pah!«
»Oder dir Schlimmeres antun.«
Schweigend hatten die Mädchen dagesessen.
Die Welt, in der sie nun lebten, war seltsam. Emily war sich dessen bewusst. Fremd und kalt konnte London einem erscheinen. Bedrohlich zuweilen. Und wenngleich sie sich an viele Kuriositäten gewöhnt hatte, so gab es doch uralte Rätsel, auf die niemand eine Antwort wusste.
»Ich bin schon vorsichtig«, hatte Emily nach einer Weile gemurmelt.
»Versprochen?«
Ein Nicken. »Versprochen.«
Und mit einem Mal war Emily bewusst geworden, wie sehr sich ihre Welt doch verändert hatte. Sie hatte an die Lektionen denken müssen, die sie für den Dienst im Namen des Senats schulen sollten. An ihre Familie, die drüben im Regent’s Park ein riesiges Anwesen unterhielt. An Mara, ihre Schwester, die man fortgeschafft hatte aus London. An ihre leibliche Mutter, die in einer Anstalt für Krankheiten des Geistes in Moorgate ein unwürdiges Dasein fristete.
»Wann bist du das letzte Mal dort gewesen?« Nur selten sprach Aurora sie darauf an.
»In Moorgate?«
»Ja.«
»Gestern.«
»Und?«
Ein Achselzucken.
Aurora hatte sie angesehen und geschwiegen.
Sie schwiegen oft.
Gemeinsam.
In letzter Zeit.
Und Emily war ihrer Freundin dankbar für diese stillen Momente.
Es gab nicht viele Menschen, in deren Gegenwart sie sich wohl fühlte. Immer öfter bevorzugte sie das Alleinsein. Die meisten Menschen, und dazu zählte sie auch ihre Mitschüler, waren ihr zu sehr bestrebt, sich selbstdarstellerisch auf der Bühne, die das Leben zweifelsohne für sie war, zu präsentieren. Die Probleme anderer wurden ausschließlich dazu genutzt, selbstmitleidig eigene Unpässlichkeiten darzubieten und so nach wohlwollendem Zuspruch und Verständnis zu heischen und dem eigenen Schicksal eine Bedeutung zuzumessen, die man nurmehr als lächerlich bezeichnen konnte.
Ihre Freundin war da anders.
Immer schon gewesen.
Aurora Fitzrovia beherrschte die Kunst des Schweigens.
Sie war eine gute Zuhörerin.
Was konnte sich Emily mehr wünschen?
»Es gibt viele Möglichkeiten«, hatte ich meiner Schutzbefohlenen einmal eingeschärft, »miteinander zu reden. Und Worte sind schmale Pfade, die uns nicht immer an den Ort führen, den wir aufzusuchen gedenken. Oftmals sind sie trügerisch.
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