Die uralte Metropole Bd. 2 - Lilith
sie sich zufrieden.
Vorerst.
»Er sieht so friedlich aus.« Langsam und bedächtig trat Emily näher an den Leichnam mit der zerfetzten Kehle heran. Die behandschuhte Hand hielt sie sich vor den Mund. Sie wankte, jedoch nur kurz. Sie wusste, was ihr bevorstand. »Ich muss es tun, stimmt’s?« Ein rostiger Geruch erfüllte den verlassenen U-Bahn-Tunnel, an dessen gekachelten Wänden vergilbte und angerissene Plakate hingen, die das vielfältige Varieteeprogramm des East Ends in den 30er-Jahren dieses Jahrhunderts anpriesen.
»Es könnte hilfreich sein«, gab ich zur Antwort.
Emilys Hände zitterten jetzt.
»Deswegen hat McDiarmid uns hierher beordert.«
»Ja.«
Ihr Mantel wehte im Wind, der durch den Tunnel heulte.
Dann sah sie mich an, verletzlich und unsicher.
Ein helles Auge, eines aus Mondstein.
»Ich habe Angst.«
Ich trat neben sie.
»Ich weiß.«
Worte halfen nicht viel.
Sie würde es tun.
Wie sie es schon vorher getan hatte. Wenige Male nur, doch …
»Halten Sie meine Hand?«
»Sie sind Emily Laing aus Rotherhithe«, hörte sie mich flüstern. Denn das war es, was ihr Mut machte.
Dann splitterte der Spiegel der leblosen Augen des Inders, und in den Scherben, die um sie herumwirbelten, erkannte Emily, was Amrish Seth widerfahren war.
Sie sah Raubtiere mit spitzen Ohren. Jaulend. Heulend. Augen, so wild und rot und blutunterlaufen. Reißzähne, blitzend im feuchten Glanz der Neonröhren. Sie hörte Schreie und Keuchen. Dann, an einen fremden Ort, eine Gestalt zwischen schwarzem Felsgestein. Fremdländische Zeichen auf dem Boden, auf dem sie kniet. Und fleht. Förmlich winselt. In einer Sprache, die Emily nicht versteht. Die sie aber fühlen kann. So scharf wie ein Messer und Frost auf der Haut. Es ist Amrish Seth, der da am Boden kniet. Inmitten der Raubtiere, die ganz nahe sind. Er schaut zu einer Frau auf, deren Gesicht in den Schatten verborgen ist. Und einem Mann, der neben ihr steht. Der die weißen Zähne fletscht. Wie ein Tier, so hungrig. Der Mann schlitzt Amrish Seth die Kehle auf. Trinkt gierig. Lächelt. Emily kennt den Mann. So gut, dass selbst die Splitter erschrocken vom Wind davongeweht werden.
Wie aus weiter Ferne erklingt ein Schrei.
Ihr Name.
Klar und deutlich.
»Emily Laing«, rief ich erneut.
Da endlich hörte ihr Körper auf, sich aufzubäumen.
Und sie weilte wieder in der wirklichen Welt.
»Sie haben ein tapferes Herz.«
Emily keuchte.
Blinzelte.
Ganz benommen noch von der Toderfahrung, in die sie eingetaucht war.
Tränen traten ihr in die Augen, dann brach sie förmlich zusammen, schluchzte hemmungslos, zitterte.
»Was haben Sie gesehen?«
Als sie sich beruhigt hatte, sagte sie es mir. »Vetala-pancha-Vinshati«, flüsterte sie. »Das hat er gesagt.« Und während sich die wenigen Angehörigen der Metropolitan endlich Seths Leichnams annehmen durften, wurde mir die ganze Tragweite der Worte bewusst, die das Mädchen soeben furchtsam ausgesprochen hatte.
Kapitel 2
Eliza Holland
Es gibt Dinge im Leben, die getan werden müssen. Augenblicke, die niemals vorübergehen. Momente, die einem bereits in der bangen Erwartung ihres Herannahens zusetzen und die einen, sind sie dann endlich da, nahezu verzweifeln lassen, weil man nach den richtigen Worten sucht, die zu finden einem auch in den endlosen Stunden, die besagtem Augenblick vorangegangen sind, unmöglich gewesen ist.
Jener wolkenverhangene Herbsttag, an dem Emily sich endgültig von ihrer Schwester hatte trennen müssen, die richtig kennen zu lernen ihr kaum vergönnt gewesen war, hatte zu jenen Momenten gehört. Ebenso wie der Blick in Auroras tränennasse Augen, als Emily ihr hatte mitteilen müssen, dass der Junge, dem ihre Freundin ihr Herz geschenkt hatte, auf See verschollen war; dass die Pequot, jenes alte Schiff, auf dem Little Neil angeheuert hatte, vermutlich in einem Sturm vor San Cristòbal gesunken war.
»Es war Alexander Grant«, hörte sich Emily wie von Ferne jene endgültigen Worte aussprechen, die ihr Gegenüber vor Schreck die Hände vor den Mund schlagen ließ. »Ich bin mir ganz sicher.« Dann berichtete sie Eliza Holland von den Bildern, die sie in Barkingside Beneath gesehen hatte. Von den letzten Augenblicken vor Amrish Seths Tod. Von dem, was der vor Furcht gelähmte Inder immer und immer gemurmelt hatte.
Vetala-pancha-Vinshati
.
»Du hast ihn wirklich erkannt?«
Emily nickte traurig.
Sie fühlte sich schuldig.
Weil es letzten Endes ihre Worte waren, die Eliza den Kummer
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