Die uralte Metropole Bd. 2 - Lilith
Wort diesbezüglich.
Zwischen den dicken Romanen und dünnen Gedichtbändchen, schweren Folianten und illustrierter Tunnelstreicherlyrik, inmitten all des schweren, nach Stockflecken und Vergänglichkeit duftenden Papiers, das sich in wackligen Stapeln und bis zum Überquellen voll gestopften Regalen fast bis unter die Decke türmte, fühlte Emily sich wohl. Hier verspürte sie die Ruhe, die ihr Herz so bitter nötig hatte. Hier war sie umgeben von den Geschichten und dem Wissen einer Welt, die sich ihr vor vier Jahren erschlossen hatte, als sie überstürzt aus dem Waisenhaus geflohen und wie Alice durch den Kaninchenbau in eine fremde Welt gestürzt war. Und Mr Dickens, der alle möglichen Arten von mysteriösen und weniger geheimnisvollen Büchern feilbietende Besitzer des Raritätenladens, hatte Emily damals angeboten, für ihn zu arbeiten.
So sortierte sie nach der Schule und den Lektionen, die ich ihr zu erteilen das Vergnügen hatte, die Neuzugänge in die Regale ein, saß hinter der riesigen Registrierkasse, las alles, dessen sie habhaft werden konnte, und wartete auf Kundschaft, die sich zumeist erst am Abend in den engen Gängen herumzudrücken pflegte.
Und inmitten der staubig schweigsamen Bücher belauschte sie die Kunden, die hin und wieder von seltsamen Schatten zu berichten wussten, die sich des Nachts an unvorsichtige Passanten in den Straßen und in der U-Bahn heranpirschten.
Nicht eine der Personen, die in den Vermisstenanzeigen auftauchten, wurde jemals wieder gesehen. Andere, die niemals vermisst worden waren, wurden einfach tot aufgefunden, irgendwo in den Tunneln der U-Bahn-Stationen.
»Kann es sein, dass es wieder beginnt?« Aurora Fitzrovia hatte diese Frage schon vor Tagen gestellt.
»Frag am besten nicht«, hatte Emily ihr geantwortet.
Unsicher.
Denn keines der beiden Mädchen hatte die Geschehnisse, deren Zeugen sie vor wenigen Jahren geworden waren, vergessen können, und als Aurora diese Frage an ihre Freundin richtete, da hätte sie ihrer beider Befürchtungen nicht besser Ausdruck verleihen können. »Kann es nicht sein, dass noch etwas dort unten lebt?«
Alles
, hatte sich Emily an die Worte des gefallenen Engels erinnert,
wird irgendwann wieder leben.
»Ich weiß es nicht.« Das immerhin war eine ehrliche Antwort gewesen.
»Pass auf dich auf«, hatte Aurora sie gebeten.
Aurora, die nach wie vor in Hampstead Heath bei der Familie Quilp lebte, hoch oben in der Dachkammer in dem Haus am Streatley Place, hatte an jenem Abend schweigend neben ihrer Freundin auf dem Bett gesessen und zum Fenster hinausgeblickt, wo die Silhouette Londons hinter einem Vorhang aus Regen immer mehr an Schärfe verlor.
Die Kuppel von St. Pauls leuchtete matt in der Dunkelheit.
Oft verbrachten die Freundinnen die Abende zusammen.
»Hast du es jemals bereut?«
Emily hatte nicht sofort geantwortet.
»Dass ich hier ausgezogen bin?«
»Ja.«
Von den Quilps waren beide Mädchen aufgenommen worden, bis Emily sich dazu entschlossen hatte, zu Peggotty und mir nach Marylebone zu ziehen.
»Ich fühle mich wohl in Hampstead Manor.«
»Wittgenstein ist mir noch immer unheimlich.«
»Er kann sehr lustig sein.«
»Du kannst über seine Scherze lachen?«
»Manchmal.«
Aurora hatte skeptisch gewirkt.
»Hampstead Manor ist eben mein Zuhause«, war Emilys Antwort gewesen, nach einer Weile. »Ich weiß, wie sich das anhört. Aber ich fühle mich dort geborgen. Man lässt mich gewähren, drängt mich zu nichts.«
Sie mochte das alte Anwesen. Hampstead Manor, das schon vor Jahren in meinen Besitz übergegangen war. Ein Labyrinth aus Treppen und kerzenhellen Korridoren. Okkulte Bücher gab es zuhauf in mehreren Bibliotheken. Dazu Kammern voller alchemistischer Utensilien und Steingärten und Gewächshäuser und Wintergärten mit exotischen Kräutern und fremdartigen Pflanzen auf dem Dach und den Balkonen. Dazwischen Emilys kleines Refugium, hoch oben in einer der Dachkammern. Ihr Reich, in das sie sich allzeit zurückziehen konnte. Der Salon mit dem großen hölzernen Globus, der die Welt so zeigt, wie sie beschaffen ist. Die Küche im Erdgeschoss, Peggottys Hoheitsbereich. Tief unten im Keller das Studierzimmer für die chemischen Prozesse, wo das Mädchen die Kunst des Brauens diverser Tränke erlernte.
»Dort ist jetzt mein Zuhause. Dort gehöre ich hin«, pflegte Emily zu sagen.
Das Haus war so seltsam wie sie selbst.
Fand jedenfalls Emily.
Vieles hatte sie gelernt während der vergangenen Jahre, und
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