Die uralte Metropole Bd. 2 - Lilith
gefühlt.
»Bitte?«
»Genau diese Mimik.«
Irgendwie ertappt, hatte Emily nicht gewusst, was sie darauf antworten sollte.
»Ich sehe nun einmal so aus.«
»Sei nicht beleidigt, Emily. Dein Mentor hat wirklich Humor. Allerdings hätte niemand damit gerechnet, dass ausgerechnet Mortimer Wittgenstein sich eines Kindes würde annehmen müssen.« Eliza hatte im Schneidersitz auf einer der Kisten gesessen und an ihrem Tee geschlürft. »Die Ratte, die ihm das eingebrockt hat, wird er wohl das eine oder andere Mal verflucht haben.« Sie hatte wissend gelächelt. »Wie du siehst, Emily Laing, bin ich im Bilde. Master Micklewhite hält mich meistens auf dem Laufenden.« Und dann hatte Emily erfahren, dass sich Eliza Holland tatsächlich gut in London auskannte. Dass sie nicht nur von der uralten Metropole wusste, sondern auch von dem, was seit kurzem hier geschehen war. »Du bist wirklich ein mutiges Mädchen, Emily Laing. Und ich bin froh, dass wir uns endlich einmal kennen lernen.«
Emily hatte ihren Tee getrunken.
Und sich wohl gefühlt dabei.
»Du bist jederzeit willkommen«, hatte die junge Frau sie an jenem Tag verabschiedet.
Und Emily Laing, die ein gesundes Misstrauen allem und jedem gegenüber pflegte, hatte der jungen Frau aus dem Antiquitätengeschäft nicht einen Augenblick lang misstraut. Als Emily das »Havisham’s« verlassen hatte, da hatte sie zum ersten Mal seit Jahren das Gefühl gehabt, einer neuen Freundin begegnet zu sein.
Auch während der folgenden Wochen hatte Emily, sofern es ihre freie Zeit zuließ, dem »Havisham’s« regelmäßige Besuche abgestattet, und dabei war ihr die neue Bekanntschaft immer vertrauter geworden. Von ihrer Kindheit in Salisbury hatte ihr Eliza Holland berichtet, die auf Emily, sah man von den vielen Ringen an ihren Fingern und den ägyptisch anmutenden Tätowierungen auf dem Rücken ihrer rechten Hand ab, wie eine der Film-Noir-Schönheiten wirkte, die geheimnisvoll in den alten schwarz-weißen Filmen der 40er-Jahre lebten, die manchmal spätnachts von der BBC gesendet wurden. »Damals, als ich nach London kam, war ich neunzehn Jahre alt.« Von ihren ersten Besuchen in der uralten Metropole hatte sie erzählt. »Anfangs ist man einfach nur überrascht, dass unter der Stadt mehr existiert als nur die U-Bahn. Dann geht man immer öfter hinunter. Lernt die uralte Metropole kennen. Die Pfade, die einen an die seltsamsten Orte bringen können.« Vom Ravenscourt hatte sie dem Mädchen berichtet. Dem Wohnheim der Tunnelstreicher drüben in Hidden Holborn. Dem Scharlachroten Ritter in Knightsbridge und der Region. »Dennoch«, so hatte sie ihren Bericht beendet, »bevorzuge ich das Leben hier oben.« Und sie hatte davon geschwärmt, welch überbordenden Reichtum London zu bieten hatte. Eine neue Welt hatte sich Emily allmählich erschlossen, wenngleich nur aus den Erzählungen einer jungen Frau, die gekonnt im Nachtleben der großen Metropole unterzutauchen vermochte, die sich in den Bars und Clubs im West End auskannte und die klassischen Poetry-Performances in den alten Pubs nahe der Fleet Street darbot. Die am Trinity College in Oxford Geschichte des Altertums studiert und die Anstellung im Britischen Museum gekündigt hatte, weil sie schon als kleines Mädchen ein Antiquitätengeschäft hatte eröffnen wollen.
Eliza Holland lebte ihr Leben.
In London.
Und in der uralten Metropole.
So hatte Emily sie kennen gelernt.
»Es war Alexander.«
Diese Worte waren es, die alles veränderten.
Emily hatte sich vor diesem Augenblick gefürchtet, weil sie insgeheim geahnt hatte, dass genau dies passieren würde. Ein Teil von ihr – derjenige Teil, der schon viel zu lange kein Kind mehr war und der in Rotherhithe hatte aufwachsen müssen – hatte befürchtet, dass die Stärke und die Überlegenheit, die Eliza Holland der Welt sonst mit einem Lachen entgegenschleuderte, mit einem Mal verschwinden würden, erführe sie von dem, was Alexander Grant zugestoßen war.
Emily wusste, dass Eliza sich vor kaum mehr als vier Monaten in Alexander Grant verliebt hatte und dass die beiden seit mehr als drei Monaten ein Paar waren. Sie wusste von der Zukunft, die Eliza in Gesprächen angedeutet hatte. Dem unbändigen Glück, das wie ein traumwandlerischer Duft nahezu greifbar gewesen war, wenn Eliza von dem jungen Wissenschaftler erzählt hatte, der für das Britische Museum Artefakte und Keramiken sammelte und restaurierte. »Die alten Hochkulturen«, hatte Eliza gesagt, »haben es ihm
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