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Die uralte Metropole Bd. 3 - Lumen

Die uralte Metropole Bd. 3 - Lumen

Titel: Die uralte Metropole Bd. 3 - Lumen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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sich nicht einmal mehr die Alten erinnern. Brücken mit goldenen Vögeln und steinernen Rittern. Dinge, von denen Geschichten künden, die seit Jahrhunderten niemand mehr erzählt.
    Dies war die Welt, die sie gierig verschlungen hatte.
    Die ihr gezeigt hatte, wo ihre Wurzeln waren.
    Damals …
    Wenn sie Hampstead Heath durchquerte, dann dachte sie immerzu an jene Welt, die ihr einen Vater gegeben und auch gleich wieder genommen hatte. Denn wenn es eines gab, was Aurora in ihrem jungen Leben gelernt hatte, dann war es, dass die Welt ein boshaftes und gieriges Tier war, das gute Menschen bestrafen und böse Menschen belohnen konnte, wann immer es ihm gefiel, und dass die Sterblichen kaum Einfluss darauf hatten und die Wege des Schicksals zwar waghalsig beschreiten, aber nur viel zu selten beeinflussen konnten.
    Immer wenn Aurora in Highgate war, wurde ihr dies alles zur Gewissheit.
    Denn Highgate Cemetery war der Ort, an dem die Welt in dem Augenblick erstarrt war, der für Aurora Fitzrovia noch immer die Gegenwart war und niemals richtig Vergangenheit sein würde.
    Dorthin, zu einer Grabstätte nahe der nördlichen Mauer, begab sich Aurora an jedem Tag. Dort verharrte sie ganz still, und nur manchmal flüsterte sie heimliche Worte. Anfangs hatte sie oft geweint, wenn sie hier war, doch waren die Tränen mit der Zeit versiegt. Ja, sie hatte sich zu beherrschen gelernt, was ihrem Vater wohl gefallen hätte.
    Immer stand sie da und las die Inschrift.
    Betrachtete die geschwungenen Zeilen auf dem Stein. Maurice Micklewhite geboren & gestorben unsterblich in der Erinnerung jener, die sein Leben teilten waren die Worte, die den schlichten Grabstein zierten. Den Stein, der so weiß war wie die Kleidung, die der Elf immer getragen hatte. Ein Sockel, auf dem sich die hohe Gestalt eines Engels in den grauen Himmel erhob, mit Schwingen, weit ausgebreitet.
    »Für Elfen sind die Tage ohne Belang«, hatte Aurora erfahren müssen. »Nur das Leben, das zwischen Geburt und Sterben liegt, ist von Bedeutung. Man kann ein Leben nicht danach beurteilen, wie lange es angedauert hat. Nur danach, wie es gelebt worden ist.« Das war es, was die Elfen glaubten. »Und der Tod tritt erst ein, wenn sich niemand mehr zu erinnern vermag.« Denn das Vergessen ist immer das Ende.
    Niemand, an den Menschen sich erinnern, stirbt wirklich.
    So stand es geschrieben.
    Aurora hatte es gelesen. In den Büchern Lord Dunsanys.
    Sie seufzte.
    Schaute den wirbelnden und tanzenden Schneeflocken zu und erinnerte sich an jenen grauen Tag, an dem sie ihren Vater zu Grabe hatte tragen müssen. Noch immer wunderte sie sich, wie fremd dieses Wort für sie klang.
    Vater.
    War er für sie doch immer nur Master Micklewhite gewesen, vier Jahre lang.
    Selbst am Grab hatte sie an niemand anderen als an Maurice Micklewhite denken können.
    Aber vielleicht, und das hatte sie sich einzureden versucht, war das auch in Ordnung. Vielleicht war dies nur der Weg, ihn in Erinnerung zu behalten, so wie sie ihn immer gesehen hatte. All die Jahre über war er ihr fürsorglicher Mentor gewesen, hatte sie geduldig gelehrt, wie man die unübersichtlichen Pfade der Nationalbibliothek im Britischen Museum beschritt und den Büchern jenes Wissen entlockte, das man suchte.
    Aurora hatte sich immer schon dort wohl gefühlt, inmitten all der stillen Leser in den Tischreihen unter der Kuppel, wenn die Bibliothek geöffnet war, und inmitten der schattigen Stille, nachdem sie für den Publikumsverkehr geschlossen war.
    War Maurice Micklewhite nicht bereits ihr Vater gewesen, noch bevor dies für sie beide zur Gewissheit geworden war? Hatte er sich ihrer nicht angenommen und ihr all das vermittelt, wie es eines Vaters Aufgabe war? Was hatte sich schon in dem Moment geändert, als sie endlich erfahren hatte, wessen Tochter sie war?
    Noch immer erinnerte sie sich an die Unsicherheit und Überraschung in den hellblauen Augen, als auch dem Elfen bewusst wurde, wer sein Kind war. Nicht einmal geahnt hatte er, dass es ein Kind in seinem Leben gab.
    Genau dieser Augenblick war es, in dem Aurora manchmal ganze Stunden verbrachte.
    Salome.
    So hatte er ihre Mutter genannt.
    Jene grausame Frau.
    Ihre Mutter, die ihren Vater getötet hatte.
    Am Ende.
    Blutige Lippen hatten den Namen der Tochter geflüstert, und dann war das Licht in den gütigen Augen des Elfen erloschen, und Aurora Fitzrovia, die ihre Wurzeln jetzt kannte, hatte nichts anderes tun können, als um ihn zu trauern.
    Noch immer tat sie

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