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Die uralte Metropole Bd. 3 - Lumen

Die uralte Metropole Bd. 3 - Lumen

Titel: Die uralte Metropole Bd. 3 - Lumen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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es.
    Denn Trauer war, wie ihre Erinnerungen schmeckten.
    Nichts würde sich ändern.
    Nach all der Zeit.
    Denn Zeit, das wusste Aurora Fitzrovia, heilte die Wunden nicht. Wenn man genau hinsah, dann erkannte man sogar die tiefen Narben unter der dunklen Haut, Narben, die auf ewig dort sein würden.
    »Ich fühle mich leer«, hatte sie Emily gestanden.
    »Kann ich dir helfen, irgendwie?«
    Sie erinnerte sich noch genau an dieses Gespräch und an Emilys Frage.
    »Bleib bei mir«, hatte Aurora gebeten.
    Denn das war es, was sie sich gewünscht hatte.
    Damals …
    Hatte sie geweint.
    Erst still.
    Dann laut.
    Auf dem Highgate Cemetery, wo die schroffen grauen Grabsteine wie alte schiefe Zähne aus der schwarzen Erde wachsen, wo prächtige Familiengrüfte die Wohnstätten der Toten sind, düstere Engel und stolze Figuren aus grauem Stein und weißem Marmor mit ihren anklagenden Armen den Himmel zu beschuldigen scheinen, die Welt so ungerecht und gierig und böse gestaltet zu haben, dass nicht einmal die Ewigkeit sich der Tränen der Trauernden erbarmen will.
    Das Leben war so kalt.
    Grausam.
    Leer.
    Und Aurora verstand an jenem Tag, was es hieß, erwachsen zu werden.
    Maurice Micklewhite war gestorben.
    Niemand würde etwas daran ändern können.
    Er war tot.
    Und die Worte, die von den Anwesenden geflüstert worden waren, waren den Mündern wie Tränen entronnen. Leise, nahezu erstickte Laute, die mit dem rauschenden Regen ein Bildnis malten, das Aurora nimmermehr würde vergessen können. Doch tauchte ein weiteres Gesicht in dem Gemälde auf. Das Gesicht eines Jungen, den Aurora geliebt hatte und der unbedingt zur See hatte fahren müssen. Little Neil Trent, der ihr damals doch zurückzukehren versprochen hatte und dessen Schiff vor San Cristobal ein Opfer der Fluten geworden war. Aurora brauchte lange, bis sie feststellte, dass die Gestalt, die bei den Bäumen stand und sich vor den Blicken der Trauergäste verbarg, niemand anderes war als Little Neil Trent. Er trug die blaue Seemannsjacke, die er auch damals getragen hatte, als sie ihn in Southwark verabschiedet hatte. Er war zur Beerdigung Maurice Micklewhites nach London gekommen, und als Aurora erneut zu den Bäumen blickte, da hatte sich die Erscheinung in nichts aufgelöst, sodass sie sich fragen musste, ob sie nicht einer Sinnestäuschung erlegen war.
    »Ich habe ihn gesehen.«
    Emily war der einzige Mensch gewesen, mit dem sie je darüber gesprochen hatte. »Bist du dir sicher?«
    Tränen waren die Antwort gewesen, und Emily hatte ihre Freundin umarmt.
    Sie waren in Marylebone gewesen, in Emilys unaufgeräumter Dachkammer.
    »Was genau hast du denn gesehen?«
    »Ich habe ihn gesehen.«
    Emily hatte nicht ausgesprochen, was sie empfand, doch musste man keine Trickster sein, um zu erraten, was in ihrem Kopf vor sich ging. »Du denkst, dass ich mir das alles eingebildet habe.«
    »Ich weiß nicht.«
    »Du hast ihn nicht gesehen?«
    »Nein.«
    »Könnte es sein, dass er es war?«
    »Dies ist London«, hatte Emily geantwortet. »Alles ist möglich.«
    »Aber warum hat er sich dann nicht zu erkennen gegeben?«
    Auf diese Frage jedenfalls hatte keines der Mädchen eine Antwort gewusst, und so war die Begegnung auf dem Friedhof geblieben, was sie gewesen war: ein Rätsel.
    Aurora jedoch wurde das Bild nicht los, und die Hoffnung, Neil Trent könne noch unter den Lebenden weilen, war zunächst herangewachsen wie eine Blüte im Frühling, bangend und betend, dass auf den Sonnenschein kein bitterer Frost mehr folgen möge.
    Am Ende jedoch war es nur bei diesem Bild geblieben.
    Little Neil Trent war nicht wieder aufgetaucht.
    Der Frost hatte die Blüte zerstört.
    Und das Leben hatte sich verändert.
    Das tat es dauernd.
    Wege, die einst in die gleiche Richtung führten, trennen sich manchmal.
    Einfach so.
    Unverhofft.
    Ganz leise.
    Und so geschah es, dass Emily Laing, die mit Adam Stewart recht glücklich war, und Aurora Fitzrovia, die niemanden mehr an ihrer Seite wusste und unglücklich war, sich immer seltener trafen, um zu reden, und wenn sie es denn taten, dann war da oft nur Schweigen, wo früher Gespräche gewesen waren, und das Schweigen war keine Stille mehr, die gut tat.
    Es hatte keinen Streit zwischen den beiden Mädchen gegeben.
    Nein, es war einfach so passiert.
    Emily hatte Adam.
    Und Aurora ihre Erinnerungen.
    So waren fast zwei Jahre vergangen.
    Bis Aurora eines Abends keinen Schlaf mehr fand in der kalten Winternacht und die zerfetzten Traumbilder, die

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