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Die uralte Metropole Bd. 3 - Lumen

Die uralte Metropole Bd. 3 - Lumen

Titel: Die uralte Metropole Bd. 3 - Lumen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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sie in der Welt zwischen gedankenverlorenem Wachen und unruhigem Schlaf heimsuchten, sie schließlich zum Fenster trieben, wo sich ihr trauriges Gesicht zwischen den wuchernden Eisblumen auf dem Fensterglas spiegelte und ihr beim Anblick der dunklen Augen bewusst wurde, wie sehr sie Emily doch vermisste.
    Kurz vor Mitternacht dann klingelte das Telefon, und es war Peggotty, die gutmütige Haushälterin von Hampstead Manor, die sie bat, nach Marylebone zu kommen. »Emily braucht Sie.« Und Aurora Fitzrovia, die intuitiv geahnt hatte, dass etwas in dieser Nacht geschehen würde, und die wusste, dass es nur äußerst selten Zufälle gab, schlüpfte schnell in ihre Sachen und verließ heimlich das Haus ihrer Pflegeeltern in Hampstead Heath, um dem Mädchen zu Hilfe zu eilen, das eigentlich doch niemals aufgehört hatte, ihre Freundin zu sein.
    Es war Schlag Mitternacht, als uns Dr. Dariusz zu Mia Manderley führte und wir zum ersten Mal die dichten Nebel erblickten, die in den toten Augen schwammen.
    »Möchten Sie sich den Anblick wirklich zumuten?«, hatte der Doktor gefragt.
    »Sie ist meine Mutter. Und ich bin kein Kind mehr.«
    Das war alles, was Emily dazu zu sagen hatte.
    Und so waren wir dem Doktor in einen großen Raum gefolgt, einen kalten Saal, dessen Decke sogar mit weißen Kacheln überzogen war. Nur zwei Tische aus einem glänzenden Metall standen mitten im Raum, steril und kühl. Auf einem der Tische lag ein regungsloser Körper, der mit einem weißen Laken bedeckt war. Daneben waren säuberlich aufgereihte Instrumente zu erkennen: seltsam geformte Zangen und löffelartige Gerätschaften mit Rändern, die wie winzige Zähne aussahen. Ein zylinderförmiges Glas, in dessen Mitte sich eine spitze und überaus lange Nadel befand.
    »Damit«, erklärte Dr. Dariusz, dem des Mädchens aufmerksamer Blick nicht entgangen war, »werden wir die Nebel aus den Augen extrahieren. Später. Um zu sehen, wie sie beschaffen sind.«
    Emily, die wie gebannt auf die lange Nadel starrte, erschauderte.
    Schwieg aber.
    Wollte gar nicht wissen, wie genau der Doktor dies zu bewerkstelligen gedachte.
    In lähmender Zeitlupe erlebte sie, wie Dr. Dariusz an den Tisch herantrat und das Laken zurückschlug, sodass sie in das Gesicht der toten Frau sehen konnte. In jenes Antlitz, das einstmals so wunderschön gewesen sein mochte und für Emily wie ein Spiegel war, der ihr die Zukunft zeigte.
    »Sie ist meine Mutter«, flüsterte Emily mit brüchiger Stimme und berührte zaghaft das Haar der Toten, das ganz weich war. »Und sie hat nicht einmal gewusst, wer ich bin. Die ganze Zeit über.« Immer nur hatten sie die hellen Augen verständnislos angeschaut, wenn sie an der Zellentür gestanden hatte. Wenn Mia Manderley ihre Melodien gesummt und mit dem Oberkörper geschaukelt hatte, als wiege sie der Takt eines süßen Liedes, das sie einst in besseren Zeiten vernommen hatte.
    Jetzt schwammen dichte Nebel in den toten Augen, und die Pupillen sahen aus wie Schneekugeln, in denen anstelle des Schnees schmutzig grauer Rauch gefangen war. Damals, dachte Emily und glaubte, sich mit einem Mal an der kalten Tischkante festhalten zu müssen; damals, als noch sprühendes Leben in den Augen gewohnt hatte, war ihr Vater wohl darin ertrunken.
    »Wir haben Manderley Manor unverzüglich in Kenntnis gesetzt«, riss des Doktors Stimme sie in die Gegenwart zurück. »Mylady Manderley verlangt, dass wir den Leichnam ihrer Tochter baldmöglichst zum Regent’s Park überführen.«
    »Sie könnten uns endlich sagen, was passiert ist.« Emily hörte ihr eigene Stimme, als sei sie die einer Fremden. So kalt und beherrscht klang sie, so fern jeden Gefühls, dass es dem Mädchen schon fast Angst machte.
    Dr. Dariusz zog langsam die Sonnenbrille aus und legte sie auf dem freien Metalltisch ab. »Ich weiß, wie es ist, einen Menschen zu verlieren, der einem nahe gestanden hat.«
    »Wir haben uns nicht nahe gestanden«, entgegnete Emily trotzig.
    »Das macht«, meinte der Doktor ernst, »manchmal keinen Unterschied.«
    Emily schwieg.
    Betrachtete den Doktor.
    Die hellen Raubtieraugen schienen mit einem Mal das Licht vergangener Wüstensonnen einzufangen. »Trauer, Miss Laing, ist das, was wir nicht fortgeben können, wenn wir es finden.«
    Orientalische Weisheiten, dachte ich.
    Und fragte: »Woher kamen die Nebel?«
    »Das ist das Rätsel, welches wir lösen müssen.« Er ging um den glänzenden Metalltisch herum. »Bisher sind wir davon ausgegangen, dass die Nebel

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