Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die uralte Metropole Bd. 3 - Lumen

Die uralte Metropole Bd. 3 - Lumen

Titel: Die uralte Metropole Bd. 3 - Lumen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
Vom Netzwerk:
gebunden trug. Hinter seinen runden spiegelnden Brillengläsern konnte man die Augen, die, wie Emily wusste, weiß waren wie die eines Raubtieres, nur erahnen. An diesem Tag hielt er sich nicht mit höflichen Floskeln auf, und beide spürten wir, dass die Neuigkeit, die uns mitzuteilen er bereit war, einfach nur schrecklich sein würde. »Mia Manderley ist tot.«
    Später würde Emily nicht einmal mehr wissen, was genau sie in eben jenem Augenblick empfunden hatte, als all ihre Befürchtungen zur Gewissheit geworden waren. Ein bleiches Gesicht starrte ihr hundertfach aus all den Spiegeln entgegen. Das Herz raste ihr, dass es wehtat. Langsam schlug sie die Hände vors Gesicht, und dann schloss sie die Augen. Und all die Briefe, die sie niemals geschrieben hatte, wurden zu Tränen, die sie nicht einmal weinen konnte.

Kapitel 2
Highgate
    Aurora Fitzrovia fand keinen Schlaf in dieser kalten Winternacht, und die Traumbilder, die sie in der wankelmütigen Welt zwischen gedankenverlorenem Wachen und unruhigem Schlaf heimsuchten, trieben sie schließlich zum Fenster, von dem aus sie den verlassenen Streatley Place betrachtete und die schiefe Kirchturmspitze drüben in der Heath Street. Ihr Gesicht spiegelte sich in dem Fensterglas, auf dem sich wuchernde Eisblumen gebildet hatten, und sie musste an die Hölle denken, die ein jeder von uns in sich trägt. Sie dachte an ihre Mutter, die der Sand mit sich genommen hatte, und ihren Vater, dem sie täglich einen Besuch abstattete. Ja, der gewundene Weg, den sie an jedem Nachmittag und an den Wochenenden bereits vormittags beschritt, führte sie vom Streatley Place über Parliament Hill durch den Park von Hampstead Heath. Sie mochte die frühen Stunden des Tages, denn dann lagen die Parkanlagen noch verlassen da, und sie hatte den Raum, den sie brauchte, um ihre unruhigen Gedanken fliegen zu lassen.
    Wie seltsam das Leben doch sein konnte. All die Jahre im Waisenhaus hatte sie sich danach gesehnt zu erfahren, wer sie war und woher sie kam. Und warum sie jemand am Fuße eines Briefkastens im Stadtteil Fitzrovia ausgesetzt hatte, als sie noch ein Baby gewesen war. So lange Zeit, in der sie sich einzig und allein nach diesem Wissen gesehnt hatte. Und nun, da sie im Besitz dieses Wissens war, fühlte sie sich da etwas besser?
    Müde rieb sie sich die Augen.
    Betrachtete ihr Gesicht im Fensterglas und suchte darin nach den Zügen ihrer Mutter. Im Waisenhaus von Rotherhithe hatten manche der Kinder sie nur das »Schokoladenmädchen« gerufen, doch hatte Aurora Fitzrovia sich ihrer Hautfarbe niemals geschämt. Und Emily Laing, die bereits damals ihre beste Freundin gewesen war, hatte ihr immer beigestanden. Am Ende nämlich waren sie beide Ausgegrenzte gewesen. Emily Laing hatte mit ihrem Glasauge ebenso unter den Anspielungen und abfälligen Bemerkungen der anderen Waisenkinder zu leiden gehabt wie sie selbst. Heute wusste sie, dass sich hinter diesen grausamen Beschimpfungen nur Unsicherheit und Verlorenheit verborgen hatten, denn keines der Kinder war glücklich gewesen in Rotherhithe. Für manche war es einfach nur die Art und Weise gewesen, mit der eigenen Furcht vor der Zukunft umzugehen. Man wertete sich selbst auf, indem man andere abwertete.
    So einfach war das gewesen.
    Die grundlegenden Dinge, dachte sie, sind eigentlich immer einfach.
    Und dann war Emily in einer Nacht, nicht lange vor Weihnachten, aus dem Waisenhaus geflohen, und überraschenderweise hatte ein in Weiß gekleideter Elf namens Maurice Micklewhite sich des Mädchens angenommen, das im »Dombey & Son« zurückgeblieben war.
    Damals, vor nahezu sechs Jahren, hatte alles begonnen.
    Vor mehr als einem ganzen Leben.
    Damals hatte sie erfahren, dass die Welt unter London nicht in der U-Bahn oder den weit verzweigten Pfaden der stinkenden Kanalisation endet. Alle waren sie hinabgestiegen an jenen mystischen Ort, den diejenigen Einwohner Londons, deren Augen offen sind für die Welt so wie sie wirklich ist, die uralte Metropole nennen.
    Die Stadt unter der Stadt.
    Dunkle tiefe Schächte, labyrinthische Straßentunnel und endlose Tonröhren führen zu absonderlichen Grafschaften, Gewölben und Katakomben oder weitaus ungewöhnlicheren Orten, wo die Menschen an der Seite von alten Gottheiten leben, wehmütige Engel singen und hungrige Wölfe unvorsichtigen Wanderern auflauern. Exotische Ländereien existieren zwischen Bloomsbury und Brick Lane Market. Es gibt U-Bahn-Linien, die kein Mensch je erblickt hat und an die

Weitere Kostenlose Bücher