Die uralte Metropole Bd. 3 - Lumen
Briefen, verfasst in tausenden Handschriften. Unzählige Füllfederhalter und Bleistifte waren von Händen geführt worden, die längst nicht mehr als kahle Knochen waren. Von Händen, die gezittert haben mochten, weil sie die Zeilen an die Liebste oder den Liebsten verfasst hatten. Händen, die um Formulierungen gerungen hatten. Händen, die einander hatten berühren wollen und in Ermangelung dieser Möglichkeit nach Worten gesucht hatten, die Berührungen gleichgekommen waren.
Emily ging ganz langsam durch dieses Meer ungelesener Zeilen.
»All die Gedanken, die zu Papier gebracht worden sind und die niemals die Personen, für die sie bestimmt gewesen waren, erreicht haben.« Behutsam hob sie einen Brief auf, der Poststempel nannte das Jahr 1899. »Adam«, gestand sie, »hat versprochen, mir zu schreiben.« Auf dem Weg hinüber nach Aldgate hatte sie mich in knappen Worten über Adam Stewarts Abreise informiert.
»Es tut mir Leid.«
Sie wirkte überrascht.
Verlegen.
Peinlich berührt.
Geradezu.
»Heute ist kein guter Tag für Sie.« Mit dem Fuß schob ich einige der Briefe vor mir her.
Emily stand inmitten all der ungeöffneten Briefe.
Sagte nur: »Ich weiß.«
Den Brief, den sie in ihrer Hand gehalten hatte, ließ sie fallen.
»Lassen Sie uns von hier verschwinden«, schlug sie vor.
Dann verließen wir diesen Ort der vergessenen Gedanken und Gefühle. Und keiner von uns blickte zurück.
Unterhalb der City of London befindet sich ein Kreuzweg, an dem sich die U-Bahn-Linien der East London und Hammersmith, Bakerloo und Central Line treffen. Und unterhalb des Kreuzweges ist nur Moor, eine düstere Landschaft voll Exkremente, Schlick und seltsam geformter Pflanzen. Von all den mächtigen Bauwerken, die einst in der Stadt der Schornsteine gelebt haben, hat sich die alte London Bridge ausgerechnet diesen Ort ausgesucht, um ihr Dasein zu fristen.
Es befinden sich Häuser auf der Brücke, die sich über den Morast spannt. Häuser mit Erkern und Türmen. Mauern, die Stacheldraht krönt. Dächer, die von schwarzem Moos befallen sind, das gierig das von der Höhlendecke tropfende brackige Wasser aufsaugt. Die Fallwinde aus den U-Bahn-Schächten von hoch oben tragen die Schreie der Kranken über das Moor.
Dieser Ort ist Moorgate Asylum.
Ein Sanatorium.
Einmal die Woche kam Emily hierher, um ihre Mutter zu besuchen, die in einer kargen Zelle des nördlichen Turms hauste. Für meist nur eine Stunde saß das Mädchen dann vor der Zellentür und beobachtete die Frau, von der es wusste, dass es ihre Mutter war, wie sie auf dem Boden hockte und den Körper in einem Takt wiegte, den nur sie selbst zu hören vermochte. Das Gesicht, das sich ihr nur selten zuwandte, war das Gesicht, das Emily in einigen Jahren selbst haben mochte. So ähnlich sahen sich Mädchen und Patientin, dass jegliche Zweifel, es könne sich nicht um Tochter und Mutter handeln, ausgeschlossen werden konnten. Meistens summte Mia Manderley leise vor sich hin, wenn sie sich beobachtet fühlte. Es war keine Melodie, die Emily kannte, aber es war eine Melodie, die schön war. Das Mädchen mochte den Gedanken, dass es vielleicht eine Melodie war, die sich ihr Vater ausgedacht hatte und an die sich Mia Manderley erinnerte. Vielleicht sogar ein Lied, das vergangene Bilder für ihre Mutter zum Leben erweckte. Ja, wenn Mia Manderley summte, dann schlich sich immerzu die Hoffnung in Emilys Herz, dass man ihre Mutter eines Tages vielleicht doch noch würde heilen können.
Wie gern würde Emily mit ihr reden. Erfahren, was einst gewesen war. Doch dann, wenn sie sich der Hoffnung hingab, kam der nächste Anfall, und Mia Manderley tobte wie ein Tier in ihrer Zelle, fauchte und fletschte die Zähne, so lange, bis die Pfleger herbeieilten und sie mit langen Spritzen und Geräten voll seltsam geformter Elektroden ruhig stellten.
Dr. Dariusz, der behandelnde Arzt, sprach nur selten mit Emily.
Und Emily mit ihm.
Das Mädchen fühlte sich nicht wohl in dem Büro mit den hohen Fenstern und den Spiegeln, die in allen Größen und Formen die weißen Wände anstelle von Bildern bedeckten.
Doch heute mussten wir ihn sprechen.
»Ich grüße Sie beide.«
Ein Pfleger, dessen rechtes Auge geschlossen war, weil Piercingnadeln das Lid zuhielten, führte uns durch die Eingeweide des Sanatoriums zum Leiter der Anstalt.
Dr. Dariusz.
Er sah nicht aus wie ein Arzt, sah man von dem langen, hochgeschlossenen weißen Kittel ab. Er hatte feuerrotes Haar, das er zu einem Zopf
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