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Die uralte Metropole Bd. 3 - Lumen

Die uralte Metropole Bd. 3 - Lumen

Titel: Die uralte Metropole Bd. 3 - Lumen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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keimte, bewahrheiten würde, dann kämen Schatten nach London, welche die Stadt der Schornsteine in neue blutige Unruhen stürzen könnten.
    »Als ich Sie rufen ließ, da lebte Miss Manderley noch«, gestand uns der Doktor, und es war aufrichtiges Bedauern, das in seiner Stimme wie eine leise Melodie mitklang. »Dass die Nebel sie töten würden, hätte keiner von uns gedacht.«
    Emily, die den Blick nicht losreißen konnte vom leblosen Körper der Frau, die ihre Mutter gewesen war, wirkte unendlich müde und fern jeden Lebensmutes. Im flackernden Licht der grellen Neonröhren wirkte das Leben so fahl und langsam und traumwandlerisch. Jene Frau war einst ein junges, hübsches Mädchen gewesen, das sich in einen Bohemien verliebt hatte.
    »Doch gibt es noch weitere Neuigkeiten, die bestenfalls recht ungewöhnlich klingen. Denn der plötzliche Tod Mia Manderleys«, vertraute uns der Doktor flüsternd an, »wird von den Black Friars höchstpersönlich untersucht. Mehr noch, es ist allen anderen Ermittlern strikt untersagt worden, in dieser Angelegenheit aktiv zu werden. Manderley Manor hat dieser Vorgehensweise sofort zugestimmt, und selbst die Metropolitan wird den Ermittlern allenfalls unterstützend zur Seite stehen.«
    Verwirrt sah Emily mich an. »Was soll denn das?«
    »Fragen Sie nicht mich.«
    In der Tat war dieses Vorgehen unüblich.
    Überaus unüblich.
    »Ist einer der Black Friars persönlich hier gewesen?«
    »Sie haben einen Novizen geschickt, der die Nachricht überbracht hat.«
    »Wann war das?«
    »Keine Stunde, nachdem Miss Manderley gestorben war.«
    Emily warf mir einen neugierigen Blick zu.
    »Was haben Sie?«, wollte das Mädchen wissen.
    »Nichts.«
    »Sie grübeln.«
    Ich nickte geistesabwesend.
    Murmelte: »Da ist jemand sehr flink ans Werk gegangen.«
    Überlegte, wie lange ein Novize wohl bräuchte, um den unterirdischen Weg von Thameslink bis nach Moorgate zurückzulegen. Ich sah dem Mädchen an, dass es meine Gedanken erriet, doch bevor Emily fragen konnte, was genau ich damit meinte, gebot ich ihr zu schweigen. Manchmal, das wusste sie, war es besser, unter vier Augen zu reden. Denn Dr. Dariusz, das war uns bekannt, stand in sehr engem Kontakt mit Manderley Manor.
    »Leider«, schaltete sich Dr. Dariusz ein, »haben wir nicht die geringste Ahnung, was wirklich im Nordturm geschehen ist.« Er seufzte und betrachtete den Leichnam auf dem Tisch. Dann sah er Emily an, und die Stille, die zwischen ihnen war, transportierte unausgesprochene Worte.
    Als hätte sie es geahnt …
    Deswegen also hatte er sie nach Moorgate kommen lassen.
    »Sie möchten, dass ich es tue.« Das war der eigentliche Grund, weshalb er uns gerufen hatte.
    »Sie sind eine Trickster«, stellte der Doktor fest. »Es liegt in Ihrer Macht.«
    Emily, die ihr verzerrtes Spiegelbild auf der Tischplatte betrachtete, fragte sich, ob sie die Kraft dazu besaß, in ihrer toten Mutter Geist nach vergangenen Bildern zu suchen. Ja, schon zuvor hatte sie Toderfahrungen gehabt, war an die Fundorte von Leichen gerufen worden, wenn die Metropolitan in Erfahrung hatte bringen wollen, was mit den Menschen geschehen war. Doch erinnerte sie sich auch an das Gefühl, das eine solche Toderfahrung begleitet.
    »Wittgenstein?«
    Sie wollte meinen Rat?
    »Sie müssen das nicht tun.«
    Ich warf dem Doktor einen Blick zu, der unmissverständlich war. »Es ist ihre Mutter.«
    »Sie kann es tun«, gab er zu bedenken, »und wir müssen wissen, was dort oben im Turm geschehen ist.«
    »Was ist mit dem Botenjungen passiert?«
    »Seine Überreste befinden sich in einem anderen Raum.«
    Dass der Botenjunge ebenfalls unter einem Laken lag, stand wohl außer Zweifel.
    »Wo haben Sie ihn gefunden?«
    »Ebenfalls am Fuße des Nordturms. Der Körper zerschmettert.«
    »Er ist auch gesprungen?«
    »Wir wissen es nicht. Vielleicht ist er auch hinabgestoßen worden.«
    »Der Pfleger?«
    Dr. Dariusz nickte.
    Emily, die unserem Gespräch nur halbherzig gelauscht hatte, trat neben ihre Mutter und berührte erneut das helle Haar und fragte sich, ob ihr Vater es gemocht hatte, dieses Haar zu streicheln. All die Fragen, die sie ihrer Mutter hatte stellen wollen, zerfielen in Worte, die in ihrem Kopf kreisten. Emily musste an ihre kleine Schwester denken. An Mara, die sie so selten zu Gesicht bekam. An Adam und Aurora und Maurice Micklewhite und Eliza Holland musste sie denken. Die Familie, die sie einst gehabt hatte, war fort, und die Familie, der sie eigentlich angehörte,

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