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Die uralte Metropole Bd. 3 - Lumen

Die uralte Metropole Bd. 3 - Lumen

Titel: Die uralte Metropole Bd. 3 - Lumen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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sie ihr Mahl beendet hatten, erhoben sich die Taubenwesen, und die Cannon Street lag verlassen da wie zuvor. Die Überreste des Mannes lagen neben dem Fernseher. Kleinere Tiere, für die es keine Namen gab, kamen aus ihren Verstecken und nagten an den Resten.
    »Wir müssen in der Tat vorsichtig sein.« Neils Stimme klang rau und kratzig. Aurora kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass er Angst hatte. Kein Mensch, der bei Verstand war, würde sich nicht fürchten beim Anblick dessen, dessen Zeuge sie gerade geworden waren.
    »Sie sind fort.« Sixpence zupfte Aurora am Ärmel. »Wenn sie gespeist haben, dann sind sie erst einmal fort.«
    Neil traute dem Frieden nicht. »Aber sie werden irgendwo lauern.«
    »Das werden sie.« Auch Aurora spürte es. Sie spürte es, wie ein Reh den grausamen Wolf spürt, der die Schnauze aus dem dichten Dickicht steckt und längst Witterung aufgenommen hat.
    »Kommt«, drängte sie Sixpence. »Sie sind jetzt fort. Und ihr wollt nach St. Paul’s.«
    Erneut lugte Neil um die Ecke.
    Nichts war zu sehen.
    Er betrachtete Sixpence, dessen Münzenaugen rot glänzten.
    »Worauf wartet ihr?«
    Junge und Mädchen nickten einander zu. In der Tat gab es keinen Grund, das Ganze länger aufzuschieben. Vor ihnen befand sich die Kathedrale. Nur hineingehen mussten sie jetzt noch und nachschauen, was sich in ihr verbarg. War es das, was sie dort vermuteten?
    Eng an die Häuserfassaden gedrückt, bogen sie von der Cannon Street in den St. Paul’s Churchyard ein.
    Die Bäume, die im Sommer ihren Schatten auf die Kirchenfenster warfen, waren verkohlte Gerippe. Der Queen Anne’s Statue fehlte der Kopf, und auch sonst sah das Denkmal geschunden aus. Ganze Ecken waren aus der Säule herausgebrochen.
    »Da sind wir also!«
    Vor dem blutroten Himmel zeichneten sich die beiden Glockentürme ab, die den westlichen Portikus und die westliche Vorhalle überragten. Dazwischen dann die gewaltige Kuppel mit der Laterne, hoch oben. Nicht weit entfernt befand sich wohl die Themse, die hier im Limbus ein rot glühender Fluss aus heißer Lava war, der Hitze und Dämpfe verbreitete wie böse Träume und den Himmel über der falschen Stadt der Schornsteine blutig rot färbte.
    »Es ist ruhig«, stellte Aurora fest.
    Taubenwesen waren keine zu sehen.
    Die Firste der Dächer, die Äste der Baumgerippe, alle waren sie verwaist.
    Trotzdem war Neil skeptisch.
    Konnte es so einfach sein?
    Durch den Haupteingang zu spazieren, und das war alles?
    Nein, es musste einen Haken an der Sache geben.
    Den gab es immer!
    Ein lautes Flügelschlagen ließ sie alle die Köpfe drehen.
    Hinter ihnen in der Straße faltete ein Mala’ak ha-Mawet die Flügel zusammen, und die Tätowierungen in seinem Engelsgesicht brannten wie eisig kaltes Wasser. Er lächelte genüsslich, und dieses Lächeln schien das Gesicht horizontal durchzuschneiden. Spitze Zähne entblößte er und eine Zunge, die gespalten, wie sie war, über die schwarzen Lippen leckte.
    Sixpence ging in die Knie und verbeugte sich vor dem Engel, und als er das tat, da wusste Neil, dass sie geradewegs in eine Falle gelaufen waren.

Kapitel 10
Das Schloss
    »Wie vieles«, sagte Rabbi Schemajah Hillel, »kann auch das Schloss majestätisch anzusehen sein, aber nur von weitem.« Die durch dicke Brillengläser stierenden dunklen Augen des ehrwürdigen Gelehrten fixierten mich. »Ihr sucht also den Tempel des Salomon, Meister Wittgenstein.«
    Er sprach mit einem starken Akzent. Die Stimme des alten Mannes schien gar nicht recht zu seinem Aussehen zu passen. Ganz warm war sie und mit ihrer Melodie, die fließend und singend war, ein Gegensatz zu der hageren knochigen Gestalt, der stärker nicht hätte ausfallen können. Der Rabbi, der in die traditionellen Gewänder gekleidet war, wirkte wie ein Relikt aus uralter Zeit.
    »Wisst Ihr, wo ich den Tempel finden kann?«
    Er schien verwundert zu sein über diese Frage. »Natürlich kann ich Euch sagen, wo Ihr den Tempel findet. Aber wollt Ihr auch wirklich dorthin gehen? Das ist die Frage, die Ihr Euch stellen solltet.«
    »Es gibt keinen anderen Weg.« In kurzen und knappen Worten fasste ich zusammen, in welcher Absicht wir nach Prag gekommen waren.
    »Dann«, brachte es der Rabbi auf den Punkt, »müsst Ihr es tun.«
    Er ging zu einem der Fenster und bedeutete mir, ihm zu folgen. Kaum mehr als ein kleines Loch in der Wand war das Fenster, doch erlaubte es einen Blick auf die andere Flussseite. Dorthin, wo das Schloss auf dem Berg

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