Die uralte Metropole Bd. 3 - Lumen
thronte.
»Dies«, sagte der Gelehrte mit leiser Stimme, »ist der Himmel der Mala’ak ha-Mawet. Es ist der Ort, von dem kaum ein Mensch je zurückgekehrt ist.« Die Augen des Rabbi musterten mich eingehend. »Dort befindet sich der ehrwürdige Tempel des Salomon. Dort werdet Ihr finden, wonach Ihr sucht.«
»Die Mala’ak ha-Mawet leben hier?«
Erstaunt entgegnete der Rabbi: »Habt Ihr das nicht gewusst?«
»Nein, ich …«
»Prag ist die Stadt der Mala’ak ha-Mawet. Schon immer ist sie das gewesen.«
»Ich habe hier gelebt«, stammelte ich nur unsicher. »Kennt Ihr Magister McDiarmid?«
»Natürlich kenne ich Magister McDiarmid. Er lebt und arbeitet an der Brücke der Heiligen, und man hat ihn schon oft zum Schloss eilen sehen. Ja, Euer einstiger Meister ist einer der wenigen Menschen, die Kontakte zum Schloss pflegen und lebendig von dort zurückkehren.«
Es verschlug mir die Sprache.
Dies war die Bestätigung.
McDiarmid war mit den Mala’ak ha-Mawet im Bunde.
Er war eine der Personen, die im Hintergrund die Fäden zogen. In Paris, in Prag, in der Stadt der Schornsteine am dunklen Fluss. Er hatte uns in eine Falle gelockt, und ich fragte mich, wie viel von dem, was wir zu wissen glaubten, falsch war, wie viele Lügen unseren Weg bis hierher begleitet hatten.
»Es ist nur wenig bekannt über das Schloss und den Tempel, aber die alten Schriften künden davon, dass es anno 1091 einen Brand gab, bei dem ein Großteil der damaligen Burg zerstört wurde. Man sagt, dass innerhalb eines einzigen Jahres eine neue Festung dort oben entstanden sei. Dass König B?retislavs Gebete erhört worden und rot leuchtende Engel an der Moldau erschienen seien. Zur gleichen Zeit sei der Berg gewachsen, und in den Lehren der Sefirot wird ein Tempel aus dem Heiligen Land erwähnt, der das rot glühende Herz des Glaubens bewahrt und sich an den Ufern einer fernen Stadt niedergelassen hat.«
»Sie glauben also, dass sich der Tempel des Salomon unterhalb des Schlosses befindet?«
»Ja, Meister Wittgenstein, das glaube ich. Rabbi Löw, so behaupten manche, habe den Weg dorthin gewagt und so das geheime Wissen erlangt, das ihn den Golem erschaffen ließ. Geschichten gibt es, wie Ihr sicherlich wisst, viele. Doch ist es schwierig, aus ihnen die Wahrheit herauszulesen.« Er seufzte und ging in die Mitte des Raumes zurück, wo er den Blick zum Gewölbe auffahren ließ und mir die Bemalung zeigte, die kaum mehr erkennbar war. »Früher waren dies bunte Bilder, die etwas zeigten, wovon schon lange niemand mehr spricht. Eine Mär, die vergessen wurde.«
»Warum ist Prag so anders als die übrigen Metropolen?«
Er lachte leise. »Das wisst Ihr nicht?«
»Nein.«
Dorian Steerforth, der sich in den Stuhl des Rabbi Löw gesetzt hatte, schwieg.
»Einst lebten wilde Tiere in der Erde, die sich von der Bosheit der Menschen ernährten. Man erzählte sich Geschichten von einem Labyrinth unter der Stadt, in dem ein mächtiger Eber sein Unwesen trieb.« Rabbi Hillel wirkte mit einem Mal müde. »Unfrieden und Blutvergießen gab es zuhauf. Dann kamen die Engel und brachten den Tempel mit. Und die Mala’ak ha-Mawet, so heißt es, stiegen in die Tiefe hinab und erlegten den Eber von Vy?sehrad. Seit jenen Tagen ist die Stadt, wie sie auch heute noch ist. Die Könige herrschten mit strenger Hand, und nun ist es die mächtige Bürokratie, die der verlängerte Arm des Schlosses ist und die Menschen lenkt, wie es ihr beliebt.«
»Die Beamten sind nichts anderes als Ungeziefer, das früher in den Tiefen gelebt hat«, bemerkte Dorian Steerforth lapidar. »Ja, genau so ist es. Tief in ihrem Innersten sind die Bürokraten nichts anderes als willenlos handelndes wuselndes Ungeziefer, dessen Insektenbeine ihnen noch immer in den Mundwinkeln zucken, wenn die Maskerade durchschaut wird.«
Ich betrachtete den ruhigen Fluss, der im fahlen Mondlicht und im Schein der Laternen fast rötlich schimmernd dalag. Konnte dies alles möglich sein? Konnte es sein, dass die Mala’ak ha-Mawet ihren Himmel in einer Stadt errichtet hatten, die von keinem der Ewigen mehr behelligt wurde? War es das? »Aber ja«, sprach ich den Gedanken leise aus, »Lord Gabriel nimmt sich das, was er braucht, in anderen Städten. Und lebt an einem Ort, der weitab liegt von den Schlachtfeldern, die er sich selbst erschaffen hat. Und auf denen er immer noch aktiv ist.« Eine einfache Regel. Man beschmutzt nicht das eigene Nest. Niemals.
»Das Schloss«, wiederholte Rabbi Schemajah
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