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Die uralte Metropole Bd. 3 - Lumen

Die uralte Metropole Bd. 3 - Lumen

Titel: Die uralte Metropole Bd. 3 - Lumen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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im Waisenhaus von Rotherhithe gewesen war, der sie aus ihren Gedanken riss.
    »Ihr seid so nachdenklich«, bemerkte er. »Was ist los?«
    »Nichts«, sagte Neil.
    »Alles«, sagte Aurora.
    »Wir müssen jetzt nach oben gehen«, warnte Sixpence.
    Neil betrachtete das Schild auf dem Bahnsteig über ihnen. Mansion House. Dann kletterte er auf den Bahnsteig hinauf, zog Aurora hinter sich her. Sixpence folgte ihnen erstaunlich behände.
    »Von nun an müssen wir vorsichtig sein. Die Limbuskinder sind überall da oben in der Stadt.«
    Langsam schlichen sie die stillgelegte Rolltreppe hinauf. Oben befand sich ein Gitter, ähnlich dem, durch das Sixpence sie in den Untergrund hineingelassen hatte.
    »Die Gitter befinden sich vor jedem Zugang zum Untergrund.«
    Neil fragte sich, wer sie angebracht hatte und warum den Limbuskindern der Zutritt zur Unterwelt untersagt blieb.
    Sixpence, das sahen sie jetzt, besaß einen Schlüssel für das Gitter. »Generalschlüssel«, sagte er.
    Sie traten nach draußen.
    Der Himmel war noch immer blutrot.
    »Die Themse ist hier ein heißer Strom«, erklärte Sixpence. »Ich bin einmal am Ufer von Southwark gewesen. Als ich neu hergekommen bin. Es gibt Wesen dort. Hungrige Tiere, die in der Hitze leben können.« Sein Gesichtsausdruck ließ keine Zweifel daran aufkommen, dass man diesen Wesen aus dem Weg gehen sollte. »Seitdem bin ich niemals wieder dorthin gegangen.« Er blickte nach oben. »Betrachtet den Himmel«, riet er den beiden. »Sie sind da, irgendwo.«
    Neil konnte keine Taubenwesen erkennen.
    Der Himmel der Hölle war leer.
    Man sah keine Höhlendecke, keine Wolken. Einfach nur das Tiefrot, das alles mit seinem Schimmer überzog.
    Die Queen Victoria Street lag verlassen da. Auch hier standen die verwaisten Autos in Scharen herum, blockierten die Straße, als sei ein Sturm über die Stadt gekommen, habe alles durcheinander gewirbelt und sich dann aus dem Staub gemacht, ohne aufzuräumen. Hin und wieder sah man einen Menschen mit Knopf- oder Scherbenaugen, der im Müll stöberte. Wonach genau die Menschen suchten, konnte selbst Sixpence nicht erklären.
    »Niemand muss hier essen, und Reichtümer gibt es auch keine.«
    Trotzdem sahen sie einen jungen Mann mit Plastikuhren anstelle der Augen, der einen Fernseher durch die Cannon Street schleppte. Nach einiger Zeit stellte er das riesige Gerät, dessen Flachbildschirm bereits zersplittert war, mitten auf der Straße nieder. Als er das kaputte Bildschirmglas bemerkte, brach er zwei etwa gleich große Stücke heraus, zog sich die Plastikuhren aus den Augenhöhlen und steckte die Scherbenstücke hinein. Dann bückte er sich, um den Fernseher erneut aufzuheben.
    »Was macht er da?« fragte Neil.
    Sixpence zuckte ratlos die Achseln.
    »Der Limbus«, sagte er nur, »ist die Hölle.«
    Im gleichen Augenblick prallte etwas so schnell gegen den Mann, dass niemand hätte sagen können, aus welcher Richtung es gekommen war. Erschrocken erkannte Neil, dass es eines der Taubenwesen war, das sich im Gesicht des Mannes festgekrallt hatte. Fast war dem Jungen, als könne er in das erschrockene Gesicht des Mannes sehen. Als spiegelten sich Schnabel und geteilte Zunge in den schroffen Scherbenaugen, an deren Seiten noch Rinnsale dunklen Blutes herabliefen.
    Aurora zog Neil in eine Häuserecke. Auch Sixpence duckte sich.
    »Da sind bestimmt noch mehr von ihnen.«
    Wie Recht sie hatte!
    Dem ersten Taubenwesen folgten noch vier weitere, die sich auf den Mann stürzten. Die Schnäbel hackten und pickten auf ihn ein, und der Mann schrie sich die Seele aus dem Leib, als die Scherben, die seine Augen waren, zu Boden fielen und in winzig kleine Stücke zersplitterten.
    »Deswegen«, hörte Aurora Sixpence sagen, »ist es gefährlich, sich nach oben zu wagen.«
    Der Mann war mittlerweile in die Knie gegangen. Eines der Taubenwesen stieß ein Knurren aus, und plötzlich erfüllten ganz viele Flügelschläge den blutroten Himmel. Eine Wolke von Taubenwesen ließ sich auf dem armen Mann nieder und begann zu fressen.
    »Das«, flüsterte Sixpence, »ist der Tod für die Toten.«
    Aurora zitterte am ganzen Leib. Wenn diese Wesen überall waren, wie sollte es ihnen da nur gelingen, in die Kathedrale hineinzugelangen? Sie hatte das erste Taubenwesen nicht einmal kommen sehen, so schnell war es gewesen. Selbst die große Wolke von Taubenwesen war so schnell über ihre Beute hergefallen, dass Aurora schon gedacht hatte, einer Sinnestäuschung erlegen zu sein.
    Nachdem

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