Die uralte Metropole Bd. 4 - Somnia
Oberfläche wie Luftblasen aus der tiefsten Tiefe ihrer stillen Verzweiflung.
Dann betrachtete sie ihre blutverschmierten Hände, drehte sie hin und her, ohne etwas anderes zu tun, als sie einfach nur anzuschauen. Niemand hatte ihr das dunkle Blut abgewaschen. Es war noch immer da. Eine Mahnung – denn etwas war geschehen.
Etwas Schlimmes.
Ein stechender Schmerz durchzuckte sie, als sie die Hände betrachtete, und sie konnte nicht einmal sagen, woher genau er kam. Es fühlte sich an, als sei tief in ihr drinnen etwas gestorben, etwas unglaublich Kostbares und Seltenes, das nun unweigerlich verloren war und niemals mehr wiederhergestellt werden konnte.
Sie schmeckte noch immer den Tee auf der Zunge, und die Erinnerungen an die vergangenen Stunden kehrten mit einem Mal zurück.
Sie war betäubt worden, so viel war sicher, und dann hatte man sie hierhergebettet, wo sie die ganze Nacht über geschlafen hatte.
Wie seltsam das Leben doch sein konnte …
Sie war eine Obdachlose, ohne Vergangenheit und ohne richtiges Leben. Sie hatte nur ihren Namen, das war alles. Doch was war schon ein einzelner Name? Selbst die Schnürstiefel, die sie noch immer an den Füßen trug, schienen von einem Geheimnis umgeben. Die einfache Magie der Gegenstände konnte so mächtig sein.
Scarlet strich sich eine Strähne des gefärbten Haars aus dem Gesicht.
Dann ging sie zur Tür.
Sie drückte die Klinke – niemand hatte abgeschlossen. Also verließ sie den runden Raum.
Draußen erkannte sie, dass sie sich unter dem Dach der riesigen Halle befand. Hölzerne Wege folgten den dicken Ästen, wohin diese auch führten, und eine eiserne Wendeltreppe wand sich an dem Stamm des Ahorns hinab in die Tiefe.
Sie spähte nach unten.
Auch dort schien niemand zu sein. »Hallo?«, rief sie in die Stille. »Jemand da?«
Sie wartete ab.
Keine Antwort!
Sie spähte erneut in die Ecken und Winkel, doch nichts regte sich.
Auch hier draußen war ein dichter Dschungel aus Blumen und Gewächsen. Efeu wuchs an den Wänden empor, Lampen hingen an den Ästen des Ahorns. Es war so warm wie in einem riesigen Gewächshaus, und die Luft war erdig und fruchtbar wie der dunkle Boden, in dem die Wurzeln all der Pflanzen ihr Zuhause gefunden hatten.
»Nun denn«, murmelte Scarlet entschlossen und machte
sich daran, das Haus zu erkunden. Sie wusste, dass dies nicht besonders höflich war, aber einen Gast, der sie ja unweigerlich gewesen war, zu betäuben, gehörte andererseits wohl ebenso wenig zur feinen Art.
Davon einmal abgesehen, war sie ein neugieriger Mensch. Ein tatenloses Herumsitzen würde ihr keine Antworten bringen. Mit leisen Schritten ging sie die Stege entlang, lauschte den unter ihren Füßen knirschenden Holzplanken.
Sie befand sich im zweiten Stock. Ihr rundes Zimmer war die Spitze eines Türmchens gewesen.
Jetzt folgte sie dem Steg, bis sie eine Tür erreichte, hinter der sie Wasser plätschern hörte, als sei dort drinnen ein Bach verborgen.
Sie öffnete sie, ohne nachzudenken.
Und trat ein.
Es war ein Badezimmer, zweifelsohne. Oder das, was einem Badezimmer am nächsten kam.
Der Boden bestand aus Kieselsteinen, hell und weiß. Zwischen den Steinen wuchsen an den Wänden stämmige Palmen in die Höhe, bis ihre Blätter die Decke berührten.
Ein Rinnsal frischen Wassers sprudelte aus einem Brunnen, der sich an der gegenüberliegenden Wand befand, und ergoss sich in ein Waschbecken aus hellem Stein, dessen Rand mit freundlichen Tiergestalten verziert war. Über dem Becken hing ein breiter Spiegel, dessen Rand aus Blech bestand, dunkelblau, durchsetzt von Aquamarin, mit Fischen und Quallen und anderen Tieren, die man normalerweise nur in Korallen findet.
Scarlet trat näher und betrachtete ihr Gesicht lange im Spiegel. Sie schaute in die Augen der jungen Frau, die ihr gar nicht bekannt vorkam. Sie war traurig, die junge Frau im
Spiegel. Nicht mehr ganz jung, aber längst noch nicht alt. Sie fühlte sich allein, das sah man ihr an. Die hohen Wangenknochen, die blasse Haut, das Haar, das pechschwarz war und an manchen Stellen dann doch in dunklem Blond schimmerte.
Wie alt bin ich?, fragte sich Scarlet. Mitte zwanzig, bereits dreißig? Sie war noch niemals gut darin gewesen, jemandes Alter zu schätzen. Und bei sich selbst konnte sie es erst recht nicht.
Sie streckte die Hand aus und berührte das fremde Gesicht.
»Hallo, Scarlet Hawthorne«, sagte sie.
Ihr Gegenüber antwortete nicht.
Seine Lippen zitterten, und dann schlug es den
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