Die uralte Metropole Bd. 4 - Somnia
du nicht auch?« Er latschte durch das hohe Gras, das in dichten Büscheln überall in der Halle wuchs. »Die Mistress liebt ihre Pflanzen über alles.«
»Und du, lebst du auch hier?« Meine Stimme, dachte Scarlet, ist immer so, wie sie jetzt ist, ein wenig rau und kratzig.
Jake Sawyer machte irgendetwas sehr Geräuschvolles in der Küche. Es schepperte, und dann hörte Scarlet Wasser plätschern. »Ja, manchmal tue ich das. Meistens treibe ich mich in der Stadt herum. Mistress Atwood kennt mich schon lange. Und ich sie. Sie hat mich von der Straße geholt.« Er hielt kurz inne. »Sagen wir einfach, dass dies so etwas wie ein Zuhause für mich ist, wenn ich nicht woanders bin.«
»Und Mistress Atwood …?« Scarlet trat hinter ihn, blieb aber im Türrahmen stehen.
»Sie hat Buster geschickt, damit ich herkomme. Sie ist sehr besorgt, weißt du, wegen der Wendigo. Und allem anderen auch, denke ich.« Er schob einen Kessel Wasser auf die Flamme des Gasherds. »Na ja, du hattest Glück, würde ich sagen. Hey, du hattest sogar verdammtes Glück.«
»Bist du schon einmal einem begegnet?«
»Einem Wendigo?« Er verdrehte die Augen und lachte, als habe sie gerade etwas durch und durch Dummes gesagt. »Nein, wo denkst du hin. Gehört zu den Dingen, auf dich ich verzichten kann.« Er hantierte lautstark im Schrank herum, kramte Filter und Kanne heraus. »Ich kenne sie nur aus den Legenden und habe einige Zeichnungen in alten Büchern gesehen. Das hat mir gereicht.« Er kratzte sich am Kinn. »Aber die Wendigo sind nicht das einzige Problem, musst du wissen. Es gibt viele Gerüchte, überall in der Stadt.« Tassen klapperten. »Dinge, die sich verändern.«
»Eistote?« Sie erinnerte sich an dieses seltsame Wort.
»Hat die Mistress sie erwähnt?«
»Ja.«
»Gewiss, es gibt Eistote in der Stadt«, sagte er eilig. »Noch nicht sehr lange. Mistress Atwood glaubt, dass es da einen Zusammenhang gibt.« Er drehte sich um und hielt zwei große Tassen heiß dampfenden Kaffees in der Hand. »Eistote. Wendigo. Kaffee!«
Scarlet folgte ihm zurück zum Tisch.
»Was hat sie mit der ganzen Sache zu tun?«
»Mistress Atwood?«
»Ja.«
»Sie ist als Beraterin hinzugezogen worden.«
»Wozu?«
»Zu den Ermittlungen.«
»Welchen Ermittlungen?«
»Hey, du bist ja richtig neugierig«, stellte Jake fest.
»Wärst du an meiner Stelle auch.«
Er nickte nur. »Der Kaffee weckt dich auf.« Er stellte die Tasse vor ihr auf den Tisch. »Und sei nicht traurig. Die Sonne scheint über Brooklyn. Jeden Tag. Das sagt man hier.«
Scarlet schaute aus dem Fenster und sah nur Wolken.
»Du verstehst?«
»Ich kann es mir denken«, gab sie zur Antwort.
Jake Sawyer nahm wieder auf seinem Stuhl ihr gegenüber Platz und schlürfte seinen Kaffee. Er ließ die junge Frau keinen Moment aus den Augen, was nicht sehr unangenehm, aber auch nicht sehr angenehm war.
»Sie hat mich betäubt«, sagte Scarlet schließlich. Mit einem Mal fühlte sie die Wut in sich aufsteigen. Trotz dieser schönen Umgebung sollte sie nicht vergessen, dass sie gegen ihren Willen betäubt worden war.
»Ja, der Tee«, war alles, was Jake dazu sagte. »Das waren Bachblüten, eine mysteriöse Mischung.«
»Was meinst du damit?«
»Sie war der Meinung, dass dir die Ruhe guttut.«
»Deswegen muss sie mich nicht gleich betäuben, oder?« Sie ballte die Hände unter dem Tisch zu Fäusten.
»Sie hat wohl geglaubt, dass du von allein keine Ruhe geben wirst. Also hat sie die Initiative ergriffen. So ist sie nun mal.« Die hellen Augen ließen nicht von ihr ab. »Sie ist eben etwas seltsam.« Dann schmunzelte er und fügte hinzu: »Aber sind wir das nicht alle?«
Scarlet fragte sich, wie er das meinte.
Augenblicke vergingen.
Beide saßen sie nur da, schauten einander an und tranken Kaffee.
Schließlich wollte Scarlet wissen: »Und was passiert jetzt?«
»Was meinst du?«
»Bin ich ihre Gefangene?«
Jake Sawyer wirkte überrascht, dann deutete er zur Tür. »Du kannst jederzeit gehen.«
Scarlet stand auf, sah ihn herausfordernd an.
Sie ging zu dem knorrigen Ast, an dem ihr Flickenmantel hing, nahm ihn ab und bewegte sich auf die Tür zu. Aus den Augenwinkeln sah sie, dass Jake Sawyer keinerlei Anstalten machte, sie am Fortgehen zu hindern. Er saß ruhig da und schaute ihr hinterher. Nippte an seinem Kaffee. Und schwieg.
Das war alles.
»Ich würde es nicht tun«, sagte er, als ihre Hand die Klinke berührte. »Nach draußen gehen, meine ich.«
Ohne ihn anzusehen,
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