Die uralte Metropole Bd. 4 - Somnia
roch, wehte ihr schneidend ins Gesicht, und das pechschwarze Haar kitzelte ihre bleichen Wangen. Die alte holländische Windmühle, die wie ein hölzernes Karussell aussah, drehte sich hinter ihr im Kreis, und die Segel aus weißem Leinen blähten sich mit jeder Böe. Irgendwo weiter hinten in der Nacht erhob sich Castle Clinton National Monument, die Artilleriestellung, die P. T. Barnum einst als Theater gedient hatte. Es roch nach dem dunklen Wasser des Hudson, der nicht weit von dieser Stelle den East River küsste und gemeinsam mit ihm der offenen See zuströmte.
Die junge Frau musste an einen anderen Ort denken, einen See, der weit entfernt war und dessen Ufer von hohen Kiefern und Tannen und wilden Zedern gesäumt waren. Sie wusste nicht, was es mit diesem See auf sich hatte, und sie hatte auch keine Ahnung, wo sich dieser See befand. Sie sah nur die Wolken, die sich auf der Wasseroberfläche spiegelten. Sie sah, wie sie vorbeizogen, und sie sah einen hellen Himmel, der wunderschön war, und sie roch die klaren Wasser des Sees, die ruhig vor ihrem geistigen Auge im Licht glitzerten und leise Dinge wisperten, die sie glücklich und traurig zugleich stimmten. Sie erblickte eine untergehende Sonne und dann wieder die vielen Wolken, und sie wusste, dass kein Anblick so schön sein konnte wie dieser. Sie streckte die Hand danach aus, als könne sie dieses Wasser berühren, dieses
klare, kalte Wasser, so scharlachrot und sanft gefärbt mit Himmel, dass es ihr wie ein Stich mitten in ihr Herz vorkam, auch nur daran zu denken. Doch es waren Wasser, die eigentlich woanders waren. Und auf ihrer Hand setzten sich nur die Schneeflocken nieder.
Sie schloss die Augen, öffnete sie wieder. Sie war noch immer hier. Nirgendwo anders.
Dann zerschnitt das Heulen die Luft. Es flog auf den Schwingen des Lärms der nächtlichen Stadt zu ihr, und sie wusste, dass es ihr galt. Ja, nur ihr allein. Die Angst war da, als sei sie niemals fort gewesen. Wie ein Schlag ins Gesicht traf sie das Gefühl, das ihre Seele eisern umschloss und sie zittern ließ. Der Wind trug die schrillen Töne durch die Stra ßenschluchten, über die Dächer der Yellow Cabs hinweg, an vermummten Passanten und geduldig im Verborgenen wartenden Wegelagerern vorbei, über Rauchschwaden und Schmutz und flimmernde Leuchtreklamen hinweg – bis hin zu ihr. Hinab in die verlassenen Weiten des nächtlichen Battery Parks.
Die übrigen Geräusche flüsterten nur.
Versprechen, die wie Berührungen waren. Heimliche Gefährten in der Nacht aus Winterszeit.
Das Schwappen des Wassers gegen die Ufersteine. Das ölige Ächzen der Windmühle.
Die junge Frau seufzte.
Außer ihr war niemand zu sehen. Kein Mensch trieb sich um diese unselige Uhrzeit an diesem einsamen Ort herum. Und sie selbst hatte nicht die geringste Ahnung, wie sie hierhergekommen war.
Sie betrachtete ihre Hände. Da, wo die große Schneeflocke sich gerade eben niedergelassen hatte, konnte man noch die
Spuren von Blut erkennen. Es war getrocknet. Aber es war noch da.
Wieder das Heulen!
Da! Es wurde lauter.
Sie wusste, welche Tiere Geräusche wie dieses machten.
Wölfe!
Sie versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen.
Wölfe?
Nein, dies hier waren keine Wölfe. Nein, nein, sie befand sich in der Stadt der zwei Flüsse mit den unendlich gewachsenen Häusern, die an den Wolken kratzten, wie die Masten der Schiffe unten an den Kais es taten. Es gab keine Wölfe in den großen Städten. Nicht einmal mehr in den Wäldern gab es sie. Vielleicht in den großen Nationalparks oder den Rocky Mountains, aber niemals hier. Darüber hinaus klang dieses Heulen nicht im Geringsten wie das Heulen vieler Wölfe. Es klang nur so ähnlich, aber es war etwas durch und durch anderes.
Es war boshafter, man konnte es spüren. Es war schneidender, und es war viel, viel kälter.
Das Heulen wurde lauter. Was immer auch diese Geräusche machte, es näherte sich dem Battery Park.
Die junge Frau mit dem pechschwarzen Haar zog den Mantel enger um sich. Er war warm und wollig und ein guter Freund, irgendwie, ein lumpig aussehendes Kleidungsstück, bestehend aus bunten Flicken, ein Mantel, den man bestimmt nicht in einem gewöhnlichen Laden erstehen konnte. Jemand hatte ihn von Hand angefertigt, jemand, der geschickt und kunstvoll zu schneidern und zu nähen verstand.
Ich selbst?, fragte sich die junge Frau und schüttelte den
Kopf. Nein, nie und nimmer. So geschickt war sie nicht, niemals gewesen. Sie berührte den Stoff, als
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