Die uralte Metropole Bd. 4 - Somnia
bessere Beschreibung einfällt. Nein, du siehst nett aus wie jemand, dem man gern begegnet ist, weil man manchmal netten Menschen begegnet, auch
wenn man gar nicht damit gerechnet hat.« Sie starrte ihn an. »Verstehst du, was ich meine?«
Ein kalter Wind war über den Galloway Graveyard gestreift wie ein Schakal auf der Suche nach einem Unterschlupf. »Ich bin mir nicht sicher, ob ich dich verstehe.«
Sie stellte das Olivenglas, das nunmehr leer war, auf den Boden. »Wir sind hier, weil wir beide unsere Ruhe haben wollen, und doch sind wir uns begegnet, und jetzt reden wir sogar miteinander. Hey, das hat doch was zu bedeuten, oder nicht? Das muss doch einfach etwas zu bedeuten haben.«
»Sehe ich auch so.«
»Und?«
»Was meinst du?«
»Erzähl mir schon, weshalb du hier bist.«
Colin nahm auf einem anderen Grabstein Platz, und dann begann er zu reden, und während er redete, fiel ihm auf, dass er womöglich nur zum Reden an diesen Ort gekommen war. Er wusste, wie seltsam dieser Gedanke war, aber er wurde ihn nicht wieder los.
»Ich weiß nicht, wo ich beginnen soll«, gestand er seiner neuen Bekanntschaft.
»Am besten ganz von vorn.«
Das war der Moment, in dem Livia Lassandri, das Friedhofsmädchen, zum ersten Mal von Helen Darcy erfuhr.
Hätte sie damals geahnt, dass sie wegen Helen Darcy ihre Heimat verlassen und erst nach Jahren zurückkehren würde, dann wäre sie wohl schnellstmöglich fortgelaufen, um nicht ein einziges Wort zu hören. Doch, wie so oft im Leben, wusste sie nichts dergleichen, sie ahnte es nicht einmal, und so blieb sie sitzen und lauschte der Geschichte, die der Junge mit den zerzausten Locken ihr erzählte.
»Ich hatte einen Traum«, so begann die Geschichte, die Colin an jenem Nachmittag loswurde, »und in dem Traum war Ravenscraig ein Ort, an dem man sich verlaufen konnte.«
Rückblickend dachte Colin, dass es sich nur um einen Traum gehandelt haben konnte, und eingedenk der Tatsache, dass er Livia das, was er erlebt zu haben glaubte, schon damals als einen Traum geschildert
hatte, musste es doch auch so gewesen sein. Ja, es konnte sich nur um einen bösen Traum gehandelt haben, denn alles andere wäre eine Wahrheit gewesen, die man gegen jede noch so beliebige Lüge eingetauscht hätte.
Als Colin Darcy zu reden begann, wehte ein kalter Wind.
»Sie hat Danny in einem Zimmer eingesperrt«, sagte Colin und erklärte dem Friedhofsmädchen, dass er einen jüngeren Bruder hatte. »Es gab einige Probleme in der Schule, nichts Ernstes eigentlich.«
Danny fiel es schwer, im Unterricht den Mund zu halten, das war alles. Er war unkonzentriert, vergaß seine Bücher und dachte während der Schulstunden an Dinge, die nichts mit den Schulstunden zu tun hatten. Das Ergebnis waren regelmäßige Anrufe der Schule, besorgte Beschwerden, pädagogische Ratschläge, gut gemeinte Appelle.
»Mutter hasst es, wenn Danny so ist.«
»Deswegen hat sie ihn in ein Zimmer eingesperrt?«
Colin schwieg und ließ den Blick über die steil abfallenden Klippen zur See hinauswandern. »Das war vor zwei Tagen«, erklärte Colin ihr und fragte sich, ob das, was er erlebt hatte, wirklich passiert war. »Sie hat die Tür hinter ihm abgeschlossen, und dann hat sie ihn allein gelassen. Doch vorher hat sie ihm eine Geschichte erzählt.«
»Welche?«
»Ich weiß es nicht.«
»War die Geschichte schlimm?«
»Ja.«
»Was ist passiert?«
Colin rieb sich die Augen, und in diesem Moment wurde all die Erschöpfung sichtbar, nachdem die Angst ihn zwei Nächte lang nicht hatte schlafen lassen. Livia setzte sich auf dem Grabstein neben ihn und ergriff seine Hand. Colin ließ es geschehen, denn es tat gut, ihre weiche Haut zu spüren. »Danny war in dem Zimmer eingesperrt, und niemand durfte zu ihm gehen. Er sollte dort allein sein.«
»Was hat dein Vater dazu gesagt?«
Colin seufzte. »Nichts.«
»Er heißt so was gut?«
»Zumindest hat er nichts unternommen.« Die folgenden Worte musste Colin mühsam hervorpressen, eins um das andere. »Das tut er nie, weißt du?!« Archibald Darcy hatte seine Sachen gepackt und war gegangen, um die Vögel zu beobachten.
Livia sagte nichts, war nur bei ihm.
»Nach der letzten Nacht habe ich es nicht mehr ausgehalten. Bei Sonnenaufgang habe ich die Tür aufgebrochen und habe Danny gesucht.« Er sah den Raum vor sich, weit wie eine Wüste. Heißer Sand hatte seine Füße, die in Hausschuhen steckten, umweht. Die Dünen, die sich dort auftürmten, wo sich sonst ein großer
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