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Die uralte Metropole Bd. 4 - Somnia

Die uralte Metropole Bd. 4 - Somnia

Titel: Die uralte Metropole Bd. 4 - Somnia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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sanfte Wogen der Blätter spüren. Kurz, ganz kurz nur, hatte sie das Gefühl, als wäre sie auf einer Wiese, weit, weit draußen, wo es keine Stadt gab, sondern nur Luft und Himmel und Wiesen und Wälder.
    Instinktiv tastete sie nach dem Amulett, das um ihren Hals hing. Jemand hatte das zerfranst zerrissene Lederband notdürftig zusammengebunden und verknotet, so dass das Amulett allzeit bei ihr war.
    Sie öffnete die Augen, betrachtete zuerst das Amulett. All die kleinen Dinge, die in dem Glasröhrchen schwammen. Bunte Steine, silberne Buchstaben, Federn, so vieles mehr.
    Ganz langsam schwanden die Kopfschmerzen, ebbten ab, als würden sie mit den Fluten hinaus ins ewige Blau der tiefen See geschwemmt.
    Das Amulett fühlte sich warm an. Es tat gut, es bei sich zu wissen.
    »Jemand da?«, flüsterte sie und bemerkte, wie brüchig und rau ihre Stimme klang.
    Niemand antwortete ihr.
    Scarlet seufzte.

    Es gab so viele schöne Pflanzen in dem Raum. Sie erkannte Pfingstrosen und Rittersporn, Türkischen Mohn und Tränende Herzen. Es roch nach Sonnenbraut und Schafgarbe und nach Brennender Liebe und Katzenminze und irgendwo sogar nach Astern. Sie atmete die Düfte ein und schmeckte sie, und dann wurde ihr bewusst, dass sie all diese Gerüche kannte. Ja, herrje, sie kannte die Pflanzen. Sie konnte sie alle bei ihren Namen nennen, allein schon, wenn sie nur die Gerüche in sich aufnahm; gerade so, als habe sie schon immer ganz genau gewusst, welche Pflanze wie lebt und wie atmet und was am liebsten mag. Mit den Gerüchen kam das Wissen zurück, aber sonst keine Erinnerung.
    Es war wirklich zum Verrücktwerden!
    Sie konnte sich nicht im Geringsten daran erinnern, dass sie eine Expertin für Pflanzen gewesen sein sollte. Und dennoch … Sie musste an die Dornenhecke am Washington Square denken. Die Dornenhecke, die sie beschützt und ihr das Leben gerettet hatte. Sie hatte die Dornenhecke wispern hören, ganz leise, wie Musik, die keine war, und die Äste und Ranken hatten ihr Schutz gewährt.
    Warum nur?
    Weil sie die Dornenhecke insgeheim darum gebeten hatte? Sie wusste es nicht.
    Wie konnte das möglich sein?
    Sie erhob sich, wenn auch nur mühsam. Ihre Beine fühlten sich schwach an.
    Langsam ging sie durch dieses Meer von Pflanzen hindurch, berührte Blätter und Blüten, und es tat gut, das zu tun. Die Nähe zur Flora gab ihr das Gefühl, nach Hause zu kommen. Was immer das zu bedeuten hatte. Es fühlte sich gut an, wie etwas, was sie herbeigesehnt hatte.

    Sie vermied es, ein zweites Mal nach jemandem zu rufen.
    Außer ihr war niemand hier. Zumindest nicht in diesem Zimmer.
    Draußen, vor dem Fenster, war tiefster Winter.
    Sie konnte über die Dächer von Brookyln Heights sehen, über den East River hinüber nach Manna-hata , wo die riesigen Häuser hoch, hoch oben in den dunklen Wolken verschwanden. Dicke Schneeflocken rieselten durch die Luft und verwandelten die Welt, von der sie nur das Fensterglas trennte, in ein tosendes Wintermärchen.
    Myrtle’s Mill, kam ihr der Name dieses Hauses wieder in den Sinn.
    Oben an der Decke wurde sie des dicken Astes gewahr, eines Ausläufers des alten Ahorns, um den die Mühle entstanden war – wie auch immer. Er durchquerte das Zimmer, und hier, gleich über einem der Fenster, stieß er durch die Wand nach draußen in die Winterwelt.
    Scarlet schaute hinaus, rührte sich nicht.
    Wie war sie nur in diese Stadt gelangt?
    Warum war sie hier?
    Sie wusste, dass sie nicht hier lebte. Sie spürte es, so klar und deutlich, wie sie im Augenblick keinen einzigen anderen Gedanken spürte. Sie war nicht in New York zu Hause – und doch war sie hier.
    Zweifellos, sie war hier.
    Mitten in der riesigen Stadt.
    Gotham – schon der Name allein gefiel ihr nicht. Trotzdem kam ihr die Stadt bekannt vor.
    In der Ferne konnte sie vereinzelt die Lastkähne auf dem East River sehen, ihre dünnen Rauchsäulen, die an den mächtigen Pfeilern der Brooklyn Bridge wie fliegende Schlangen
hinaufstiegen. Zu ihrer Linken erblickte sie im nebelhaften Tag die Umrisse von Ellis Island.
    Solitaire .
    Davon hatte sie geträumt. Bloß Buchstaben, die sich zu einem fremden Wort ohne Sinn verbanden.
    Sie berührte eine Eisblume, die draußen auf dem Fensterglas wucherte. Es stimmte sie traurig, das zu tun. Die Eisblume schmolz unter der Berührung ihres Fingers.
    Müde und noch immer erschöpft, rieb sie sich die Augen. Sie war in einem bösen Traum gefangen, ja, so musste es sein.
    Tränen drangen an die

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